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Literatur

Never anyone but you

[CN: Der Text enthält einige inhaltliche Details des Romans „Never anyone but you“ von Rupert Thomson. Inhaftierung, Folter, Mord, Nazis, Suizid, Esstörungen, psychische Erkrankungen, implizite Queerfeindlichkeit werden erwähnt.]

„Never anyone but you“ von Rupert Thomson ist ein sehr lesenswerter, queer-historischer Roman, der auf vielen verschiedenen Ebenen mit mir resoniert hat.

Sprache

Unabhängig von den vielen inhaltlichen Facetten finde ich den Text auch sprachlich und erzählerisch sehr gelungen. Die Beschreibungen von Landschaften, Wetter, Atmosphären und Personen erscheinen mir unglaublich organisch – prägnant, aber auch poetisch, dabei völlig unaufdringlich und wahrhaftig.

Die Erzählung fließt buchstäblich dahin und umhüllt die Leser*in mit einem Seidentuch, das mal kühl, mal weich ist, kurz eng, oft weit ist. Es ist bewundernswert, wie Gegenwart und Vergangenheit, Träume, Erinnerungen und Beobachtungen nahtlos ineinander übergehen und ein kohärentes Bild entstehen lassen.

Die Ich-Perspektive gibt Suzanne Malherbe (Pseudonym Marcel Moore) eine Stimme, der langjährigen Partnerin von Claude Cahun (Geburtsname Lucy Schwob), und erzählt deren Liebes- und Lebensgeschichte, die Anfang des 20. Jahrhunderts beginnt und bis in die Nachkriegszeit reicht.

Queerness

Claude wäre in heutigen Begriffen wahrscheinlich eine nicht-binäre oder genderqueere/-fluide, bi-/pansexuelle Person. Das Label „Lesbe/lesbisch“ für ihre Identität und Beziehung zu Suzanne/Marcel zu verwenden, ist denke ich, in einem breiten und offenen Verständnis des Konzepts dennoch gerechtfertigt, sinnvoll und zutreffend.

Es ist unglaublich faszinierend, in diesem fiktionalen Detailreichtum über (gender)queere Personen in der Geschichte zu lesen. Alles erscheint mir so nah – emotional, aber auch zeitlich, als könnte es heute sein.

Weder ein Mann noch eine Frau zu sein, sich weder nur für Frauen noch nur für Männer zu interessieren. Sich von bestimmten Personen angezogen zu fühlen, die etwas verkörpern, das 1 selbst gerne hätte / wäre. Begehre ich diese Person, weil ich sie sein will? Weil ich mit dieser Person sein kann, wie ich sein will.

Kunst

Claude und Marcel waren Teil der künstlerischen, speziell surrealistischen Szene von Paris der 1920er und 1930er Jahre rund um Dalí und Breton. Sie waren publizistisch und grafisch tätig, haben mit Fotografie und Performance experimentiert – vor allem getrieben von Claudes innovativen Ideen. Claudes androgynes Auftreten und ästhetischen Ausdrucksformen beeinflussten später z.B. Cindy Sherman.

Sie blieben immer eher Randfiguren und führten ein recht zurückgezogenes Leben – auch um – mal mehr mal weniger bewusst – keine Aufmerksamkeit auf ihre Liebesbeziehung zu lenken. Die Szene war außerdem insgesamt – wer hätte es gedacht (Ironie) – sehr hetero-cis-männlich dominiert. Frauen waren dort oft nur „schmückendes Beiwerk“, „Musen“, „Sexobjekte“.

Interessant fand ich die Passagen zu „automatischem Schreiben“ oder die „Entdeckung von Träumen“ für künstlerische Produktivität. Ich selbst träume so viel, intensiv und real – ich könnte ganze Bibliotheken, Galerien und Mediatheken damit füllen, würde ich alles sofort festhalten und als Material nutzen.

Beziehung

Claude wird als eher „exzentrisch“, „psychisch instabil“ und „bindungsunsicher“ beschrieben. Sie begeht mehrere Selbstmordversuche über ihr ganzes Leben hinweg und leidet an einer anorektischen Essstörung, Schlafstörungen, raucht Kette. Eine Person, die primär Extreme kennt und sucht.

Suzanne/Marcel tritt als die „bodenständigere“ Person, die Konstante in ihrer Beziehung auf, unterstützt und begleitet Claude über deren künstlerische, psychotische und auch zerstörerisch-gewaltvolle Phasen hinweg – bis zu ihrem Tod.

Ich fand es sehr berührend und plausibel, wie die Ambivalenz zwischen der (fast) unerschütterlich starken Bindung und der schockierend disruptiven Verletzlichkeit ihrer Beziehung beschrieben wird. Die Perspektive einer Person, die mit den psychischen Erkrankungen ihrer Partnerperson umgeht, die über verbale, körperliche und emotionale Verletzungen hinweg an der Liebe und der anderen Person festhält.

Nazis

Claude und Suzanne/Marcel werden 1943/44 von den Nazis auf der Kanalinsel Jersey, wo sie seit einigen Jahren leben, für ihre Widerstandspropaganda inhaftiert und zum Tode verurteilt. Nur durch misslungene Selbstmordversuche im Gefängnis entgehen sie der Deportation ins Konzentrationslager und kommen zum Kriegsende frei. Ihre Villa wurde geplündert und ihr künstlerisches Werk weitgehend zerstört.

Sie sehen Gruppen von Zwangsarbeitenden vorbeiziehen und eine Mauer direkt vor ihrem Grundstück bauen, verstecken einen Geflohenen längere Zeit bei sich, hören aus erster Hand von den unvorstellbaren Grausamkeiten und der systematischen und opportunistischen Entmenschlichung.

Ich sehe auf meinen Spaziergängen die Stolpersteine im Viertel noch bewusster als sonst – vor gut jeder dritten Haustür – ermordet, deportiert, überlebt. Ich erinnere mich an die Lektüre von Jean Amérys Texten über seine Arbeit im Widerstand, seine Flucht, seine Inhaftierung, die Folter, die Zwangsarbeit, die Zeit im KZ, die ich vor einem Jahr gelesen habe. Die Graphic Novel „Rosa Winkel“, viele Szenen aus Klaus Theweleits „Männerphantasien“, meinen Besuch in Auschwitz in der 10. Klasse, die Kleiderhaufen, die Fotos von ausgezehrten Leibern und Leichenbergen.

Sie hätten auch für ihre Liebe, ihre nonkonforme Kleidung und Kunst oder Claude für ihre Abstammung inhaftiert werden können – so viele queere Dinge vereint in zwei Personen, die Nazis hassen und auslöschen wollen.
Es kann so schnell gehen – aus einem Leben, aus dem, was mensch für „Normalität“ hielt, was mensch sich als „safe space“ geschaffen hatte, herausgerissen zu werden.

Klasse

Apropos Villa. Beide kamen aus reichen, bürgerlichen Familien und lebten vor dem Krieg ein finanziell sorgenfreies Leben zwischen Bohème und Bourgeoisie. Monatliche Alimente und elterliches Erbe inklusive. Es erscheint mir fast absurd, dass so ein Leben möglich war – komplett fokussiert auf das eigene Schaffen und Sein.
Geld haben ermöglicht Einiges, aber nicht alles.

Unsichtbarkeit

Spannend finde ich, dass Claudes und Suzannes/Marcels Beziehung ein Bespiel für die „Unsichtbarkeit“ lesbischen Lebens ist. Da sie offiziell Stiefschwestern wurden, konnten sie ihre Beziehung unter diesem Deckmantel recht gut verstecken und wurden als „ungefährlich“ wahrgenommen. Sie ziehen sich bewusst zurück und schätzen die zweisame Abgeschiedenheit bis auf wenige Besuche alter Freund*innen aus Paris. Wahrgenommen als „ältere Damen“ können sie ihre Widerstandspropagandaaktionen lange unentdeckt durchführen.
Nach dem Tod von Claude lebt Suzanne noch fast 20 Jahre alleine auf Jersey. Die Schilderung ihrer Einsamkeit ist erschütternd; sie genießt die soziale Zuwendung eines jungen Handwerkers, der Einkäufe und kleinere Tätigkeiten für sie erledigt, bevor auch ihre Stimme für immer verstummt.

Es ist wirklich ein Geschenk, dass dieses Paar, diese Personen in diesem Roman lebendig werden und aus der Unsichtbarkeit heraustreten.

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Literatur

Triggerpunkte

Das Forschungsprojekt und die Monografie „Triggerpunkte – Konflikt und Konsens in der Gegenwartsgesellschaft“ finde ich wissenschaftlich und gesellschaftspolitisch sehr ehren- und bewundernswert.

Auf einer breiten empirischen Datenbasis und gleichzeitig theoriegeleitet untersuchen die drei Autoren (!1) die Fragestellung, ob die deutsche Gegenwartsgesellschaft „gespalten“ bzw. „polarisiert“ ist, da dies medial oft suggeriert wird. Das eindeutige Fazit der Studie: Nein. Die Polarisierung sei eher ein medial inszeniertes und gefühltes Phänomen. Eine Politisierung bestimmter Reizthemen wird dennoch behauptet.

Arenen der Ungleichheit

In den vier untersuchten „Arenen der Ungleichheit“,

  1. Oben-Unten (Finanz- und Sozialpolitik)
  2. Innen-Außen (Migrations- und Außenpolitik)
  3. Wir-Sie (Identitäts- und Kulturpolitik) und
  4. Heute-Morgen (Umwelt- und Verkehrspolitik)2

wird über alle Klassen/Schichten, Geschlechter, Wohnorte, Berufsgruppen, Bildungsniveaus und Wähler*innenschaften („Elektorate“) ein „breiter gesellschaftlicher Konsens“ festgestellt, der jedoch in allen vier Arenen von einem „Ja, aber“ gekennzeichnet sei.

Oben-Unten: Umverteilung

Zu 1. Umverteilung, ja. Aber keine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze und keine höhere Besteuerung von höheren Einkommen und Vermögen. Es wird eine „demobilisierte Klassengesellschaft“ attestiert, die vor allem aufgrund von Glauben an Meritokratie („alle bekommen, was sie verdient haben“, „Leistung muss sich lohnen“, „wer sich anstrengt, verdient auch mehr“ – danke für nichts, Neoliberalismus) und einem wahrgenommenen eigenen Wohlstand (z.B. im Vergleich zu anderen Ländern) nicht für eine stärkere Umverteilung eintritt. Gerade untere Einkommensschichten glauben besonders stark daran, dass sie es mit eigener Anstrengung „nach oben“ schaffen könnten. (LOL)

INNEN-AUßen: Migration

Zu 2. Migration, ja. Aber nur die „guten“ Migrant*innen, also die, die wirtschaftlich „wertvoll“ sind oder „echte“ Fluchtursachen haben und zu „unseren“ Bedingungen (Stichwort: Assimilation; „Leitkultur“).

WIR-Sie: MInderheiten

Zu 3. Toleranz für homosexuelle und trans*nicht-binäre Personen, ja. Aber am besten nicht in meiner Familie, bitte nicht in der Öffentlichkeit und dort nicht so penetrant (!). Schließlich wollen sie ja gleiche Rechte, also sollen sie sich bitte auch „normal“ verhalten und nicht so LAUT sein. Und gendergerechte Sprache lasse ich mir nicht vorschreiben – wo kommen wir denn da hin!

heute-morgen: Klimawandel

Zu 4. Klimaschutzmaßnahmen, ja. Aber ich möchte bitte keine persönlichen Einschränkungen davon haben und mein Auto + Fahrgeschwindigkeit und mein Fleisch lasse ich mir nicht verbieten!

Mich haben diese Zusammenfassungen und Erkenntnisse nicht sonderlich optimistisch gestimmt, sondern eher resigniert fühlen lassen (siehe Europawahl 2024). Und der Erkenntnisgewinn scheint mir auch gering, denn ich wusste auch vorher, was Armin und Gisela denken und sagen. Schließlich werden die emotionalisierten „Debatten“ ja ständig medial aufgeführt.

Triggerursachen

Triggerpunkte entstehen anhand der Autoren aufgrund von vier Merkmalen:

  1. Ungleichbehandlung / Gleichheitsgrundsatz („Sonderrechte für Minderheiten“),
  2. Normalitätsverstöße / Normalitätserwartung („Ausländerkriminalität“),
  3. Entgrenzungsbefürchtungen / Kontrollbedürfnis („Grenzöffnungen“) und
  4. Verhaltenszumutungen / Gewohnheitsrecht („Tempolimit“).

Menschen mit viel Kapital (sozial, ökonomisch, kulturell, etc.), also Bildungseliten (technische und kulturelle Expert*innen wie Ingenieur*innen und Lehrer*innen) sind in der Regel progressiver und liberaler eingestellt, während Personen mit wenig Kapital (sozial, ökonomisch, kulturell, etc.) also Produktionsarbeitende oder Kleinunternehmer*innen wie Kioskbetreibende eher zu konservativeren Einstellungen neigen. Mehr Bildung und Wohlstand für alle würden also einige politische Probleme lösen. Surprise. (Ironie)

Interessant ist auch, dass Menschen mit höherer Bildung ein kohärentes Wertesystem zu haben scheinen und über die Arenen hinweg progressive Meinungen vertreten, während Personen mit geringerer Bildung opportunistischer und partikularistischer denken und entscheiden. Damit sind sie auch anfälliger für populistische Affektpolitik „an den Rändern“, die Triggerpunkte emotional, medial und schließlich auch politisch ausnutzt (siehe AFD auf TikTok).

Lesenwert und ernüchternd

Die Monografie ist – bis auf einige akademische Ausdrücke und Lieblingswörter („Salienz“, „Ökonomien“) – sehr zugänglich geschrieben und beinhaltet sehr viele, visuell gut aufbereitete Grafiken und tabellarische Übersichten der empirischen Befunde, die wesentliche Analyseergebnisse kurz und übersichtlich zusammenfassen.

Ein lesenswertes Buch, das das Potenzial zum sozialwissenschaftlichen Klassiker hat, das auf mich aber doch eher ernüchternd als beruhigend gewirkt hat.

„Triggerpunkte – Konflikt und Konsenz in der Gegenwartsgesellschaft“ von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser. edition suhrkamp. 2023

  1. Sehr süß und lobenswert finde ich, dass die drei Autoren in der Danksagung explizit sagen, dass so ein Projekt keine „Three-Men-Show“ sei und würdigen alle anderen Mitwirkenden. ↩︎
  2. Wobei (1) als klassisches industrielles ökonomisches, gesättigtes Spannungsfeld und (2)-(4) als „postindustrielle“, nicht diskursiv eingespielte/eingehegte Konfliktthemen kategorisiert werden, die noch nicht entschieden sind. ↩︎
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Leben

Hochbegabt und hochsensibel

Diesen Text habe ich am 25.11.2023 geschrieben.

Jetzt habe ich das, was alles erklärt, nicht im Internet gefunden (hashtag modediagnose), sondern in einem fast 20 Jahre alten Buch, das inzwischen in der 12. Druckauflage erschienen ist – mit lila Umschlag! – und ich aus der lokalen Bücherei ausgeliehen habe.

Es ist wirklich eine wilde Reise in die Vergangenheit – nicht alles in den frühen 2000ern war cool – weder psychologische Theoriebildung und Behandlung – schon gar nicht meine Jugend.

Alles, was Andrea Brockmann (AB) zu hochbegabten Menschen, ihrer Wahrnehmung, ihrem inneren Erleben, ihren sozialen Schwierigkeiten schreibt – seien es Kinder, Teenager oder Erwachsene -, hat mich sehr bewegt (all the feels), weil es genau meinen Erfahrungen entspricht. Ich wollte alle exemplarisch beschriebenen Personen umarmen und sofort Zeit mit ihnen verbringen.

Es ist nicht so, dass ich das nicht wusste. Wenige Jahre bevor dieses Buch entstanden ist, wurde ich getestet und diagnostiziert. Aber ich habe über das „Du könntest Einstein werden“ (cringe) hinaus nie verstanden, was das für meine Interaktion mit der Umwelt bedeutet.

Es ist auch nicht so, dass ich keine entsprechende Förderung bekommen hätte – im Gegenteil. Ich habe alles gemacht, alles wurde mir ermöglicht. Aber ich wusste nicht, dass es sich um eine generelle „neuronale Übererregbarkeit, welche sich in Überaktivität des Denkens, emotionaler Hypersensibilität und Überempfindlichkeit der sinnlichen Wahrnehmung“ handelt.

Die potenziellen Überschneidungen mit Autismus (und anderen Formen der Neurodivergenz) sind gleich ersichtlich – und warum mich das so intensiv interessiert und beschäftigt hat – und nicht vollständig (oder ausschließlich) passte.

AB thematisiert die Parallelen explizit (auch zu „Borderline“) und es ist sehr erschreckend, wie verheerend der Forschungsstand vor 20 Jahren (zu beiden Themen) und wie abwertend und menschenverachtend die Perspektive, Sprache und Behandlung in Bezug auf Betroffene war (und ist). („Rainman“ und „A beautiful mind“ kommen natürlich genauso sicher vor, wie Asperger zustimmend zitiert wird. Und was war das bitte für eine crazy Obsession mit „gespaltenen Persönlichkeiten“ damals?!)

Die frustrierende Erfahrung in der Klinik (und davor in meinen Psychotherapien) und ein Gespräch mit meiner Mutter zu meiner Kindheit haben dazu geführt, dass ich nach diesem Buch gesucht habe. Vielleicht tauchen die Testergebnisse sogar noch in dem Wust an Unterlagen bei meinem Vater auf.

Es hilft mir wirklich, einfach nur zu wissen, dass das eine sinnvolle Erklärung ist – dass ich nicht „unfähig“ oder „gestört“ bin – sondern aus guten Gründen „ausschweifend“ und „fordernd“, wie es so schön (Ironie) im Abschlussbericht heißt.

Menschen fühlen sich von mir „überfordert“ (und damit manchmal auch „bedroht“) – auch Therapeut*innen – story of my life. Gaslighting, Selbstzweifel.

AB plädiert dafür, Hochbegabte ernst zu nehmen, ihnen aufrichtig und authentisch zu begegnen, auf ihre Eigenarten einzugehen und so eine vertrauensvolle, gleichwertige Beziehung aufzubauen – basic human dignity.

Ich bin echt gespannt, wo mich das noch hinführt.

〰️〰️

„Jenseits der Norm – hochbegabt und hoch sensibel?“ von Andrea Brackmann, Klett-Cotta, 2013 (8. Auflage).

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Leben Literatur

Psychose und Schizophrenie

Ab und zu gibt es doch Personen bzw. Gespräche mit diesen im „Hotel Matze“, die mich jenseits eines voyeuristischen Interesses intrinsisch und ehrlich interessieren. Dazu zählte z.B. Jakob Hein. Sein eigener Podcast „Verrückt“ ist vielleicht ein bisschen zu lakonisch-laber-rhabarber und anscheinend mittlerweile eingestellt, aber er hat mir ein paar nette Stunden und eine sehr schöne, intensiv-obsessive Phase zum Thema „Psychose und Schizophrenie“ beschert, die mich sehr zufrieden zurückgelassen hat.

Mit Begeisterung habe ich die Folgen mit Christiane Wirtz, Klaus Gauger und Jann Schlimme gehört – anschließend die Selbstberichte von Christian Wirtz („Neben der Spur“) und Klaus Gauger („Meine Schizophrenie“) gelesen und zwei Radiofeatures gehört, in denen Christiane Wirtz und Jann Schlimme zu Wort kommen.*
Letzterer ist ein führender Experte auf dem Gebiet, der sich vor allem für eine reduzierte Medikation und verstärkte psychotherapeutische Behandlung der Erkrankten einsetzt.

Beide Gespräche mit den Betroffenen sind kein „easy listening“ – weder auf inhaltlicher noch kommunikativer Ebene. Es hakt und holpert. Christiane Wirtz fühlt sich oft missverstanden, Klaus Gauger hat eine fast irritierende Sachlichkeit. Sein Bezug zu Freiburg/Emmendingen und Kybernetik haben mein Interesse noch verstärkt.

Fasziniert hat mich, wie ähnlich sich eine Wahnsymptomatik ausprägt – also Verfolgungs- und Verschwörungsgedanken, das exzessive Wahrnehmen von systematischen Verbindungen, dessen Zentrum, die betroffene Person auf positive wie negative Weise ist, und der unglaubliche Output, der binnen kürzester Zeit in Form von Klagen, Briefen, E-Mails etc. gegen die ausgemachten „Gegner*innen“ generiert wird.

Erschreckend ist, wie oft Symptome unerkannt und über lange Zeiträume unbehandelt bleiben, dann oft einseitig mit starker Medikation und Nebenwirkungen (gegen Betroffene) vorgegangen wird, wie hilflos Angehörige davor stehen (müssen) und wie ein kollektives Systemversagen und nachfolgende Stigmatisierung auf diese Weise sehr nachhaltig Leben destruktiv beeinflusst.

Ich fand es sehr interessant zu lernen, dass Psychosen und Schizophrenie Bewältigungsmechanismen der menschlichen Psyche im Angesicht von als überfordernd erlebten Krisensituationen sind – wahrscheinlich unterstützt von einer z.B. genetischen Prädisposition.

* Die Links finde ich leider gerade nicht wieder, da die Radiobeiträge von 2017 und im Buch von Christiane Wirtz erwähnt sind, das ich aus der Bücherei ausgeliehen hatte. Möp.
Zwei Folgen (Bian I, II) „Rätsel des Unbewussten“ aus der Serie „Tales of Therapie“ beschäftigen sich ebenfalls mit diesem Thema sowie weitere Folgen mit Expert*innen bei Jakob Hein. (Welche ich allerdings nicht so interessant fand, wie die verlinkten.)

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Literatur

Rico und Oskar VS. Leo & Lucy

Es ist sicher mehr als 10 Jahre her, dass ich – in einem Zustand der Kinder- und Arglosigkeit – die ersten drei Bände „Rico, Oskar und die Tieferschatten / das Herzgebreche / der Diebstahlstein“ von Andreas Steinhöfel gelesen habe.
Dann hörte ich kürzlich ein Interview mit dem Autor in einem Psycho-Podcast*, lernte, dass Andreas Steinhöfel schwul und die Bingotrommel-Metapher eine sehr direkte Anspielung auf eine ADHS-Symptomatik ist. Und dass ich den Autor ziemlich unsympathisch finde.
Dennoch, potenzielle Queerness und Neurodivergenz in Kinder- und Jugendbüchern – unmissverständlich ein Aufruf zum Re-Read!

Schlecht gealtert und verstörend

Leider musste ich beim Vorlesen feststellen, dass die Bücher in meiner Perspektive wirklich schlecht gealtert sind. Vielleicht gilt das für viele „Kulturprodukte“ aus den 2000ern, wo die Awareness bzgl. Sexismus, Rassismus, Ableismus etc. absolut unterirdisch bzw. nicht existent war.

Mein Eindruck ist, dass es sich nicht einmal um Kinderbücher handelt. Die Sprache, die der Autor für die Figur Rico wählt und vermeintlich eine neurodivergente Perspektive vermitteln soll, war für meine Kinder über große Strecken un- und missverständlich. Das „Witzige“ an Ricos Darstellungen habe wenn ich verstanden und fand es oft eher bitter, zynisch und deprimierend. Für mich haben die Texte viel Pessimismus und Negativität transportiert, Geschlechterklischees und ableistische Stereotype reproduziert. „Schwul“ taucht als Schimpfwort auf, ständig geht es um „große Brüste“. Why?

„Das graue Gefühl“ aka Depressionen und die Ambivalenz der Verlässlichkeit und Befähigung von erwachsenen Bezugspersonen zu thematisieren, ist sicherlich löblich, aber auch mich lassen die Geschichten eher verstört als empowert zurück.

Könnte Autor*in das nicht noch mal „in schön und gut“ erzählen?

Neurodivergenz neu erzählt

Und tatsächlich scheint Rebecca Elbs das mit ihrer Reihe „Leo & Lucy“ gemacht zu haben. Es gibt zahlreiche Parallelen zum „Rico und Oskar“-Setting. Ein LRS/ADHS-Kind, ein eher hochbegabten Kind (im Rollstuhl), prekäre soziale Verhältnisse, eine alleinerziehende Mutter mit eigenen Problemen und Geheimnissen, einen mysteriös abwesenden Vater, eine umsorgende, etwas kuriose Hausgemeinschaft.

Auch hier gibt es fehlbare Erwachsene, Freund*innenschaftsdrama, Schulschwierigkeiten – kein Friede-Freude-Eierkuchen (bzw. Oladi) – aber der Grundton ist nicht so düster, die Perspektive ist empathisch (und nicht sadistisch) und danke, danke, danke die Klischeekiste bleibt weitestgehend geschlossen. Lovestories sind auch hier weitestgehend heteronormativ – mensch kann nicht alles haben.

Falls ihr also eine gesellschaftsfähige Alternative für „Rico und Oskar“ braucht, kann ich euch „Leo & Lucy“ empfehlen.

Add on: Wer sich für LRS (Lese-Rechtschreib-Störung) in einem Jugendbuch interessiert, dem*der kann ich „Die beste Bahn meines Lebens“ empfehlen. Fand ich sozial schon etwas hardcore und klar wieder hetero Kitsch – zum Glück bin einfach kein Teenie mehr.

* Generelle Empfehlung für den Podcast „Verrückt“ von Jakob Hein. Content note: Die letzte, aktuellste Folge ist mit einem Rammstein-Bandmitglied (und sehr langweilig, nicht zu Ende gehört). Mein Beitrag zu Literatur und Podcasts zum Themenkomplex „Psychose / Schiziphrenie“ folgt : ).

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Literatur

Dies ist mein letztes Lied

[Inhaltswarnung: Der folgende Text enthält inhaltliche Details der Novelle „Dies ist mein letztes Lied“ von Lena Richter. Wenn du diese nicht erfahren möchtest, überspringe den Abschnitt „Welten und Lieder“.]

Die Novelle „Dies ist mein letztes Lied“ von Lena Richter hat mich sehr berührt.

Vielleicht weil ich gerade krank und ein bisschen down war.
Vielleicht weil Periode und noch mehr feels und verletzlicher als sonst.
Vielleicht weil ich schon bei der Beerdigung in Sex Education am Tag zuvor geweint hatte.

Aber nein.

Dies ist einfach ein unglaublich vielschichtiges Buch, das auf jeweils wenigen Kapitelseiten mindestens acht verschiedene Welten entwirft und dabei so viele unterschiedliche Charaktere, gesellschaftspolitische Themen und urmenschlichen Gefühle aufruft, dass es eine wahre Freude (und gleichzeitig tief traurig) ist, Qui durch die Portale zu folgen, die Qui durch Musik erscheinen und Qui verschwinden lassen.

Welten und Lieder

Quis Reise beginnt auf Deriton 5, wo alles Leben dem Corps gehört und ein Entkommen aus der hyperkapitalistischen Hölle (ähnlich einem Dorf, in dem die ganze Familie seit Generationen auf ein und dieselbe traditionelle und bequeme Weise lebt) im jugendlichen Überdruss erstrebenswert und möglich scheint, aber irgendwann zwischen endlosen Arbeitschichten, blinkenden Shopping Malls und bunten Cocktails mit einsetzender Trägheit in Vergessenheit gerät. So ist Quis erstes Lied eines von verlorenen Träumen.

Auf Kexxil glaubt Qui noch, auf einer Held*innenreise zu sein – also von einer höheren Macht auserwählt, um Großes in der Galaxis zu vollbringen – wie den Krieg zwischen Tag- und Nachtseite des Planeten beizulegen, der seit unbestimmter Zeit der einzige Lebensinhalt der Bewohnenden ist – ohne dass sich noch irgendeins an dessen Grund erinnern könnte oder wollte. Qui mag sich für keine Seite entscheiden und spielt ein Lied für das Zwielicht.

Qui wird darauf das temporäre sechste Mitglied einer queeren Wahlfamilie, die eine ganze kryokonservierte Population von Menschen in einem Raumschiff – Silemon VII – zu einer neuen Heimat begleitet, nachdem die Sonne ihres Planeten frühzeitig erloschen ist. Die Reise wird ihre eigene Lebensspanne voraussichtlich überschreiten. Qui erfährt, welche Wirkmacht Gemeinschaft entfalten kann, und so ist Quis drittes Lied voller Hoffnung – auch wenn der Aufbruch immer einen Abschied bedeutet.

Auch dem Planeten Yular ist das Schicksal nicht gnädig. Während Qui mit deren Musik und dem LoopTrain durch die Dörfer und Städte reist und einiges an Popularität gewinnt, streift ein Asteroid die stillgelegte Atomarstation im Orbit. Ein Unglück, das binnen weniger Tage alles Leben auf Yular für immer zerstören wird – und dem Großteil der Galaxis ist es egal. Die, die Geld und Beziehungen haben, können sich retten – die anderen bleiben zurück. Qui sammelt verzweifelt noch ein paar Spenden ein und spielt, während alles rundherum zusammenbricht, ein Lied über die Gleichgültigkeit.

Ins Bodenlose gefallen, traumatisiert und desillusioniert von den Ereignissen erwacht Qui als gestaltlose, graue Wolke in der virtuellen CloudWelt von Veringhall, während Quis Körper irgendwo auf einer Liege mit allem überlebensnotwendigen versorgt wird. Langezeit bleibt Qui namen- und antriebslos und verweigert sich jeglicher sozialen Interaktion oder kreativen Gestaltung eines Avatars oder „Second Life“. Der vollständig harmonisch für hedonistischen Eskapismus konstruierte Ort lässt jeden Raum für Quis Depression, bis Qui eine Gruppe von Musiker*innen – das Wiederspiel – kennenlernt, die vergessene Stücke vergangener Zeiten wieder aufführen. Qui schließt sich an und fasst neuen Mut mit dem fünften Lied der Gemeinschaft.

Doch Quis nächster Aufenthalt auf einem unbekannten, menschenleeren Planeten wirft Qui komplett auf sich selbst zurück. Anfänglich physisch geschwächt vom virtuellen Leben muss Qui lernen, in Gegenwart von unberührten Natur, wenigen Vögeln, Käfern und Pflanzen sich selbst genug zu sein. Gefühle von Einsamkeit, Ausweglosigkeit und Sehnsucht beschäftigen Qui während der steten Anpassung an einen Lebensraum, der weder menschenfreundlich noch -feindlich ist. Nach einiger Zeit findet Qui Trost in den Rhythmen und Klänge der vertrauten, vormals stummen Natur und spielt das sechste Lied nur für sich.

Die Menschen auf Tzrilic sind erschrocken über Quis verwahrloste Erscheinung und Qui ist geblendet und überwältigt von der gleißenden Helligkeit und lärmenden Zivilisation. Im Krankenhaus trifft Qui auf T’irl und zusammen entdecken sie die Geborgenheit erwiderter Liebe, gemeinsamer Rituale und geteilter Zeit und Gegenstände. So gerne Qui für immer in diesem Gefühl, diesem Leben, dieser Beziehung verharren würde, so sehr zieht es an Qui und Qui muss weiter. So ist das siebte Lied für T‘irl von der Dunkelheit und von den Dingen, die nicht sein konnten.

Auf Lekkoka kehrt Qui in den Hyperkapitalismus zurück, wo alles eine Show und ein Business ist. Qui ergibt sich – taub, gleichgültig und müde – der geschäftigen Oberflächlichkeit und einer einflussreichen Musikmanagerin, weil Qui weiß, dass das nächste Lied das letzte sein wird. Im Bewusstsein, dass dieser Auftritt nur das nächstbeste ausschlachtbare Event und Qui ganz alleine auf dieser in die ganze Galaxis übertragenen Bühne ist, erkennt Qui plötzlich, nicht ohnmächtig und einsam, sondern mit allen Begegnungen verbunden und darin selbstwirksam zu sein. Qui spielt das letzte Lied voller Möglichkeiten.

Phantastische Tiefe

Es ist, als hätte mensch über jede Welt einen 400-Seiten-Roman gelesen, so eine Tiefe und Komplexität haben die skizzierten Landschaften, Gesellschaften und Figuren. Und wie wohltuend ist es eigentlich, eine Vielzahl an Neopronomen zu lesen, die sich ganz selbstverständlich in den Text und die Identitäten einfügen.

Ich selbst mache mir gar nicht viel aus Musik und obwohl sie ein zentrales Motiv der Novelle ist, spielt es – aus meiner Sicht – keine Rolle, weil sich die Bedeutung unabhängig von der konkreten kreativen Ausdrucksform ergibt.

Es ist eine Geschichte über das In-die-Welt-geworfen-sein und die damit einhergehende Macht- und Fassungslosigkeit gegenüber dem Schicksal und der Grausamkeit, die eins den Sinn allen Lebens in Frage stellen und aufgeben wollen lässt. Und es ist eine Geschichte über das Entdecken der eigenen Handlungsfähigkeit und Wirkmächtigkeit, der Ambivalenz und des Spektrums von Gefühlen – in Verbindung mit anderen und sich selbst.

Ich habe beim Lesen nicht nur einmal geweint und hoffe, Lena Richter schreibt noch mehr so progressiv phantastische Bücher.

Aufmerksam geworden bin ich auf die Novelle durch den Genderswapped-Podcast, wo die Autorin eine der beiden Hosts ist.

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Literatur

Wayfarer IV

[Inhaltswarnung: Diese Rezension enthält viele inhaltliche Details des Romans „Die Galaxie und das Licht darin“ von Becky Chambers.]

Am Rande des Universums

Teil 4 des Wayfarer-Zyklus von Becky Chambers habe ich gleich im Anschluss an Band 3 gelesen, weil ich wieder komplett ins Universum eingetaucht war. „Die Galaxie und das Licht darin“ thematisiert hauptsächlich die marginalisierten – in den vorangehenden Romanen und in der Galaktischen Union (GU) selbst randständigen – Spezies wie Laru, Quelin und Akarak.

Gerade durch diese beiden Teile ist mir klar geworden, wie stark konzeptionell-demonstrativ die Romane konstruiert sind – es geht mehr um das zu transportierende Konzept, weniger um die Storyline an sich. Mir gefällt das sehr gut, weil so wirklich ein ganzes Universum in seiner Komplexität erschlossen wird und die Romane nicht auf einzelne „Held*innenfiguren“ oder spektakuläre Plots setzen.

Teil 1 ist die Einführung ins Wayfarer-Universum mit einer Reise durchs All, die alle Spezies zumindest einmal kurz streift.
Teil 2 beschäftigt sich primär mit künstlicher Intelligenz (KI), Körpern und Maschinen. Aandrisks, Äluoner*innen und Menschen (speziell Modder) stehen im Fokus. Der Link ist Lovey, die ehemalige KI der Wayfarer aus Band 1.
Teil 3 ist enzyklopädisch motiviert und zentriert die Geschichte der Menschen im Weltraum. Die harmagianische Kolonialzeit und Spezies bekommen mehr Raum. Die Verbindung zu Teil 2 ist Tessa, die Schwester von Ashby, Captain der Wayfarer.

Respektvoller Streit im Paradies

Im vierten Roman ist eine der fünf Protagonist*innen, Pei, die Geliebte von Ashby, die als einzige unter ihnen eine privilegierte und daher streitbare Position hat.
Mit der – wie ihr ganzes Volk durch die harmagianische Ausbeutung und Zerstörung – zur Nomadie gezwungenen Akarak Speaker und dem – wegen seiner dissidenten politischen Haltung durch seine eigene Spezies – verbannten Quelin Roveg strandet Pei aufgrund eines Satellitenausfalls für einige Tage in der auf Herberge der Laru Ouloo und ihrem Kind Tupo auf dem Planeten Gora, der rein als Verkehrsknotenpunkt dient. So ergibt sich eine Art Kammerspiel unter der Habitatkuppel, bis die technische Störung behoben ist und alle wieder ihrer Wege fliegen können.

Wie immer sind alle Figuren von extremer Herzlichkeit und gegenseitiger Rücksichtnahme geprägt – kein Alien möchte dem anderen Böses. Dennoch treten Konflikte auf – vor allem zwischen der Akarak Speaker und der Äluonerin Pei, die als paramilitärische Frachtschifferin an der Rosk-Grenze in Kriegshandlungen und Besatzungsaktivitäten verwickelt ist – was Speaker aus eigener bitterer Erfahrung persönlich abscheulich und moralisch absolut verwerflich findet und Pei als politisch notwendig und moralisch geboten erachtet.

Check your privilege

Mit Akarak hatte keine*r der Anwesenden bisher (nennenswerten) Kontakt – auch nicht die sehr um Komfort für alle Spezies bemühte Gastgeberin Ouloo – und aufgrund dieser Mischung aus unreflektiertem Desinteresse (individuelle Ebene) und bewusster Ausgrenzung (strukturelle Ebene) innerhalb der GU wissen alle grundlegende, existenzielle Dinge über diese Spezies nicht – wie z.B. dass sie Methan atmen und keinen Sauerstoff, dass sie asexuell sind und sie sich mit ihren Armen und Beinen schwingend fortbewegen, wenn sie nicht Mech-Anzügen stecken. Aufgrund dieser Tatsachen ist Speaker grundlegend von gemeinsamen Mahlzeiten ausgeschlossen und kann sich nie frei bewegen.

Roveg, der durch seine Verbannung selbst die Erfahrung von extremer Ausgrenzung gemacht hat, ist derjenige, der sich am meistem um Speaker bemüht, sich für ihre Bedürfnisse und Erfahrungswelt interessiert. Er recherchiert, welche Nahrungsmittel sie zu sich nehmen kann, bereitet Speisen für sie zu und lädt sie zu sich aufs Shuttle ein. Am Ende programmiert er ihr – qua Beruf dazu befähigt – eine extra für Akarakgehirne ausgelegte Sim (was es bisher auf dem Markt nicht gab), in der Speaker und ihre Zwillingsschwester Tracker seinen Lieblingsort – und damit das erste Mal in ihrem (im Vergleich zu den anderen Spezies) kurzen Leben ein Gefühl von Freiheit und Entspannung – ohne Anzüge und in ihrer Art, sich natürlich zu bewegen, erfahren können – wovon sie verständlicherweise komplett überwältigt sind.

Pei beginnt während des unfreiwillig verlängerten Aufenthalts zu flimmern und entscheidet sich durch den ihr unliebsamen Rat von Speaker am Ende spontan für den – für sie – revolutionären Akt, ihr Ei nicht befruchten zu lassen und ihre interspeziäre Beziehung mit Ashby öffentlich zu machen – was sie beides einige ihrer Privilegien, zumindest einen großen Teil ihres Ansehens innerhalb ihrer Spezies kosten könnte. Sie verhilft über ihre Kontakte Roveg zu einer temporären Aufenthaltserlaubnis im Quelin-Territorium, sodass er die Brandmarkungszeremonie seiner Söhne, die er selbst als Eier am Panzer getragen hat, erleben und diese nach langer Zeit wiedersehen kann.

Ende gut, (fast) alles gut

Durch die Interaktion zwischen Ouloo und Tupo und durch einen Unfall letzteres erfahren wir auch nebenbei mehr über die Laru – z.B. dass sie ihr Geschlecht erst im Laufe des Erwachsenwerdens feststellen und bekannt geben, sodass im Roman durchgängig neutrale Pronomen in Bezug auf Tupo verwendet werden. Ouloo pflanzt zum Schluss Akarak-Pflanzen in ihrem Garten an, um zukünftig besser auf die Bedürfnisse dieser Spezies vorbereitet zu sein.

So kuschelig und utopisch das Wayfarer-Universum meistens ist, umso wichtiger und spannender fand ich diesen letzten Band, der einige Spannungen, Missstände und Konflikte aufzeigt, Privilegien und Machtgefälle zentriert – und dabei trotzdem hoffnungsvoll und verbindend bleibt und sogar ein bisschen rebellisch wird.

Werden die Akarak einen speziesgerechten Lebensraum bekommen?
Wird es zukünftig mehr dissidente Quelin geben und sich das Regime liberalisieren?
Wird es für Äluoner*innen irgendwann einfacher möglich sein, Beziehungen mit anderen Spezies einzugehen und sich gegen Fortpflanzung zu entscheiden?

Wir werden es nie erfahren, da mit „Die Galaxie und das Licht darin“ der Wayfarer-Zyklus endet. Ich bin ein bisschen traurig, nicht mehr davon lesen zu können. Andererseits finde ich es eine so inspirierende queere Scifi-Serie und einen wirklich gelungenen Abschluss, dass es besser eigentlich nicht sein könnte.

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Literatur

Wayfarer III

[Inhaltswarnung: Diese Rezension enthält viele inhaltliche Details des Romans „Unter uns die Nacht“ von Becky Chambers.]

Liebe auf die zweite Lektüre

Bevor ich den Roman überhaupt zur Hand genommen habe, hatte ich schon von mehreren Personen gehört, dass Teil 3 und 4 irgendwie „nicht so gut“ oder zumindest „anders“ sein sollten als Band 1 und 2 des Wayfarer-Zyklus. Vielleicht war ich deshalb schon negativ voreingenommen, als ich meinen ersten Leseversuch begann – und auch unterwältigt war. Irgendwie wurde ich nicht so richtig warm (rw) mit den Figuren und dem eher – so schien es mir – öde dahin plätschernden (rw) Plot.

Nach einer längeren Pause, in der ich nur Sachbücher oder Romane zu „Problemthemen“ gelesen hatte, riet mir meine (weise) Partnerperson, doch zur Abwechslung mal „etwas Schönes“ zu lesen. Und nachdem ich die Novelle „A psalm for the wild-built“ von Becky Chambers absolut begeistert gelesen hatte, wollte ich es mit Wayfarer Teil 3 und 4 noch einmal versuchen. Und tatsächlich: Jetzt konnte ich mich gut auf die eher langsam erzählten Geschichten und verschiedenen Stimmen der Figuren rund um die Raumflotte „Asteria“ einlassen und bin nach Abschluss der Lektüre – wieder einmal – sehr begeistert davon, wie Becky Chambers es auch hier wieder schafft, ein vielschichtiges, durch und durch von Herzlichkeit und gegenseitigem Verständnis geprägtes Bild anderer möglicher Welten und Lebensweisen, Kulturen und Sprachen, Perspektiven und Möglichkeiten zu zeichnen (rw).

Fokus – Menschliche Genealogie und Ethnografie

Der Fokus von „Unter uns die Nacht“ liegt auf der menschlichen Spezies, ihren verschiedenen Lebensformen und deren historischer und aktueller Entwicklung im Spannungsfeld zwischen Tradition / Herkunft / Stagnation / Langeweile und Aufbruch / Fortschritt / Zukunft / Neugier. Dass gerade in Band 1 und 2 nicht Menschen im Zentrum des Wayfarer-Universums standen, sondern andere Spezies wie Aandrisks und Äluoner*innen, hat mich besonders fasziniert – und daher wahrscheinlich anfänglich daran gehindert, Teil 3 eine Chance zu geben (rw). Mittlerweile finde ich es als Ergänzung und Hintergrundgeschichte absolut relevant und spannend.

Die harmagianische Ethnografin Ghu’loloan reist zur exodanischen Flotte – ein Verbund von Raumschiffen auf einer immer gleichen Umlaufbahn, mit der die letzten Menschen von der zerstörten Erde geflüchtet sind, und die dort seit Generationen in einer auf Kommunitarismus und Recycling basierenden Solidargemeinschaft leben -, um die dortige, einzigartige Lebensweise zu studieren und akademisch darüber zu schreiben. Jeder Romanteil beginnt mit einem ihrer aus dem Hanto ins Kliptorigan übersetzten Berichte, die gleichzeitig ihre tiefe Wertschätzung und Neugier sowie ihr interspeziäres Befremden und Staunen ausdrücken – wie zum Beispiel über den menschlichen Geburtsvorgang, die ressourcen-intensive Kinderaufzucht und den furchtsamen Umgang mit Tod. Zu Gast ist sie bei der Archivarin Isabel Itoh, die sie herumführt und in ihrem Forschungsinteresse begleitet, und ihrer Frau Tamsin, die eine Schwäche für gutes Essen und starke Vorbehalte gegenüber den einst kolonialistisch-gewaltätig agierenden Harmagianer*innen hat, von denen sie letztere durch den interspeziären und interkulturelle Austausch abbauen kann.

Ambivalenz – Gehen oder Bleiben

Spannend sind auch die Generationenkonflikte – zwischen Alt und Jung – und die diametralen Perspektiven von Exodanerinnern und Planetarierinnen – von Innen und Außen. Als exodanische Enklave ist die Flotte zum einen ein retro-utopischer Anziehungspunkt für planetarische Aussteiger*innen, die „mal was Neues probieren“ wollen und sich von der „menschlichen Ursprünglichkeit“ der „Asteria“ angezogen fühlen – wie der junge Sawyer von Mushtullo – und zum anderen eine konservierte, veraltete und um sich selbst kreisende Raumschiff gewordene Langeweile ohne Zukunft – wie für den Jugendlichen Kip, der sich nichts sehnlicher wünscht, als der generischen Peinlichkeit und erdrückenden Empathie seiner Eltern und der selbsterhaltenden Gefängnishaftigkeit und Sinnlosigkeit der Flotte zu entkommen. Auch Tessa, Frachthafenarbeiterin, Tochter von Pop, Mutter von Aya und Ky und Schwester von Ashby Santoso, dem Kapitän der Wayfarer, quält sich über den Roman hinweg immer wieder mit Fluchtgedanken, für die sie sich der Tradition wegen schämt, – bis sie sie am Ende doch des Versuchs willen in die Tat umsetzt, um auf dem Planeten Seid als Farmerin eine andere, neue Perspektive auf das Leben zu finden, ebenso wie Kip, der ein Studium an einer planetarischen Universität aufnimmt, bevor er bei Isabel Itoh in die Leere geht, um die Tradition seiner Vorfahr*innen fortzuführen.

Von Eyas, einer seit Kindertagen überzeugten Hüterin, lernen wir viel über die exodanischen Bestattungsriten, die das Kompostieren der Bewohnenden beinhaltet, die dann als Erde wieder in den Indoor-Farmen, Gewächshäusern und Gärten zum Fortbestand der Flotte beitragen. Aber auch in Eyas ist die Ambivalenz stark – sie sehnt sich nach einem unbestimmten Mehr, was sie erst körperlich-freundschaftlich und später beruflich-kooperativ im Sexarbeiter Sunny findet, mit dem sie beginnt Workshops für Interessierte an der exodanischen Lebensweise anzubieten. Zuvor gab es nur Vorbereitungskurse für Emmigrant*innen, die die Flotte verlassen wollten.

Sprache, Lektorat, Cover

Becky Chambers fängt in den sich auf eine Figurenperspektive konzentrierenden, abwechselnden Kapiteln das jeweilige Lebensgefühl der Protagonist*innen und deren Gedankenwelt vielstimmig und präzise ein (rw). Die jugendlich-aufgekratzte (rw) gutmütige Planlosigkeit von Kip, die abenteuerlustig-sympathische (verhängnisvolle) Naivität von Sawyer, die gesetzte (rw) ausgewogene Seniorität von Isabel, die zwischen Autorität und Laisser-faire, Sorge, Stolz und Überforderung oszillierende Mutterschaft von Tess, die hingebungsvoll-überdrüssige Ruhe(losigkeit) von Eyas.

Das Lektorat lässt zum Ende des Buches hin etwas nach. Ein „sie“ ist fälschlicherweise groß geschrieben. Plötzlich fehlt ein Verb oder ein anderes Wort im Satz. Alle Cover sind dem Inhalt der Romane in keinster Weise würdig. Leider ist das vermutlich eine traurige Konsequenz des Mangels an angemessener Entlohnung für diese „nebensächlichen“ Tätigkeiten.

Ich wünschte es gäbe großartig illustrierte Ausgaben der Wayfarer-Bücher, die das Universum, das Becky Chambers erschaffen hat, in seiner liebenswürdigen Diversität angemessen abbilden und feiern.

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TRANS

Mein Körper als Safer Space

Vor zwei Wochen war ich für ein Wochenende auf einem Bodywork-Retreat für genderqueere Menschen bei lila_bunt in Zülpich – geleitet von Zaf und Jespa.
Es war insgesamt ein herausforderndes, sehr empowerndes Erlebnis für mich, das ich jeder queeren und*oder gender-questioning Person empfehlen möchte, die sich mit sich selbst, ihrem Körper und seiner Interaktion mit der Umwelt auseinandersetzen möchte.

lila_bunt ist einfach ein toller Ort. Völlig unscheinbar hinter einem großen, grünen Tor in einer kleinen Ansammlung von Häusern gelegen, öffnet sich ein queerfeministischer, utopischer Raum voller Herzlich- und Fürsorglichkeit. Während der absolut enthusiastischen Begrüßung durch den Hausdienst konnte ich die zärtliche Revolution getragen von Solidarität und Tatkraft quasi spüren.

ANSPANNUNG – ANKOMMEN – ATMEN

Als ich die Ankündigung der Veranstaltung einige Wochen zuvor gesehen hatte, war ich sofort völlig begeistert und euphorisch – genau das hatte ich schon so lange gesucht. Körperarbeit in einem Raum voller anderer queerer Menschen, wo einige Unsicherheiten gleich außenvor bleiben. Leicht ungünstig vielleicht der Termin – Ende der Sommerferien, ich müsste die Kinder „weg organisieren“ plus ein paar Tage weniger mit meiner Partnerperson. Einen möglichen Overload am ersten Schultag (aller Beteiligten) entschied ich als tragbare Konsequenz zu bewerten.

Schon den Tag vor der Anreise war ich unfassbar nervös und angespannt. Fremde Menschen, unbekannte Umgebung, anderes Essen, unklare Abläufe. Ich fühlte, wie der Druck der Ungewissheit in mir stieg. Dann auch noch Autofahren, an einem Freitagnachmittag, bei Hitze, eine neue Strecke, an Köln vorbei – ein Albtraum. Zusätzlich meldete sich dann recht spontan noch eine andere teilnehmende Person, um bei mir mitzufahren und testete sich positiv auf Corona auf dem Park&Ride-Parkplatz, als ich sie abholen wollte. Puh.

Als ich mega gestresst ankam, dachte ich erst, ich wäre falsch. Die Straße vor lila_bunt wird gerade erneuert – eine einzige Baustelle, Baufahrzeuge vor der Tür. Doch ich war richtig, wurde nett empfangen und bekam mein Zimmer gezeigt. Viele waren schon da, als ich zum Namensschildbasteln dazu stieß. Glitzer, Roboter- und Weltraumsticker – das musste ein queerer Ort sein. Kurz darauf ging es in den Seminarraum.

Bei der Vorstellungsrunde legte sich meine extreme Anspannung ein bisschen. Fast alle anwesenden Personen sagten Dinge über sich und ihre Motivation hier zu sein, die ich stark nachempfinden konnte. Kleine Details, die sich teilweise an den Gegenständen festmachten, die wir hatten mitbringen sollen, weil sie eine besondere Bedeutung für uns haben. Gedanken, Gefühle, Dinge, die wir für das Wochenende nicht dabei haben wollten, konnten wir – symbolisch – in Luftballons und Gläser auslagern.

Mich auf die erste körperliche Interaktion zwischen allen Teilnehmenden einzulassen – eine Art „Kreisspiel“ mit einem inneren und äußeren Kreis aus Personen, in dem sich je zwei Menschen gegenüber stehen und der äußere Kreis nach einer jeweils anderen vorgegebenen, kurzen Interaktion zur nächsten innen stehenden Person weitergeht – fiel mir schwer, ich fühlte mich sehr unsicher und anfänglich unwohl. Danach war ich etwas erleichtert und manche Interaktionen hatten mir Spaß gemacht.

GRENZEN – VERBINDUNG – RESSOURCEN

Die Workshopeinheiten am Samstag und Sonntag waren in drei thematische Blöcke gegliedert: Grenzen – Verbindung – Ressourcen.
Mit einem Wollfaden sollten wir unseren eigenen Raum auslegen. Meiner war zu Beginn ein sehr kleiner, mehrfach gelegter Kreis, den ich nach einigen weiteren Übungen am Vormittag ausgeweitet habe, als ich mich wohler, entspannter und willkommen fühlte.

Wir bekamen einen unbekannten Gegenstand, den wir mit geschlossenen Augen etwa 10 Minuten mit den Fingern erkunden sollten. Ich hatte unglaubliche Freude daran, weil ich ein unebenes, asymmetrisches Stück Holz mit Astloch bekommen hatte, das mich an eine Baumvulva erinnerte – perfect match.

Eine besonders schöne Erfahrung waren für mich auch „Listening Turns“, wo es darum geht, abwechselnd einer anderen Person 5 Minuten etwas zu erzählen und 5 Minuten etwas erzählt zu bekommen, sich danach beieinander zu bedanken bzw. „Gerne“ zu sagen – ohne jeglichen Kommentar zum Gesagten, weder währenddessen noch danach.

Wir wurden außerdem eingeladen, den Seminarraum körperlich zu begreifen, zu erfassen, zu erkunden. Es war so befreiend und interessant, sich auf dem Bauch über den neuen Holzboden zu ziehen, Holzstrukturen mit dem Finger nachzuzeichnen, den Geruch einzuatmen, die Kühle und Rauheit der Wände zu spüren, das warme, glatte Holz des Fensterbretts, das in der Sonne lag, die metallenen Rillen der Heizkörper entlang zu fahren und dem gleichmäßigen Klang zu lauschen, der entsteht.

Immer wieder gab es die Möglichkeit, in Paaren oder in der Gruppe die eigenen Erfahrungen und Gedanken zu teilen. Für mich war unglaublich interessant zu erleben, dass ich oft gar nicht mehr das Bedürfnis hatte, etwas zu sagen. Die Erfahrung allein, der Fokus, die Interaktion mit mir, dem Raum, Gegenständen oder anderen war ausreichend – es gab dem nichts mehr hinzuzufügen.
Eine eingesetzte Methode nach somatischen Übungen war „automatic writing“ – für einen begrenzten Zeitraum einfach aufschreiben, was 1 gerade im Kopf hat. Neben den Listening Turns hat das, denke ich auch, dazu beigetragen, dass für mich alles gesagt, alles gefühlt, alles gedacht war.

AUTHENTIC MOVEMENT- SCULPTURING – AUTOMATIC WRITING

Die für mich krasseste Herausforderung und Überwindung war eine Paarübung aus dem „authentic movement“ – begleitete Bewegung. Mich zu Musik bewegen, Bewegungsimpulsen meines Körpers folgend und dabei von einer anderen Person begleitet, berührt werden – puh, das schien mir fast unmöglich. Mein innerer Widerstand war erstmal spürbar groß, ein Gefühl von Überforderung, die Angst, mich lächerlich zu machen, es nicht zu können.
Aber ich wollte wirklich alles geben und alles mitnehmen von diesem Wochenende – und mein Mut hat sich gelohnt.

Es war eine sehr, sehr schöne, empowernde Erfahrung. Mit einer Geste konnte ich die andere Person einladen und wieder ausladen aus der Begleitung. Ich konnte in einer losen, spontanen Abfolge Bewegungen ausprobieren und vertiefen, die ich seit einiger Zeit für mich als entspannend, stimulierend und regulierend herausgefunden habe. Beide Arme abwechselnd nach hinten über die Schulter klappen, dabei große, dehnende Ausfallschritte machen. Hüpfen. Auf den Füßen vor und zurück schwingen. Den Kopf und die Arme hängen lassen, den Rücken dehnen. Die gegenteilige Biegung, Brücke mit voller Spannkraft – alle Gelenke und Muskeln in Anspannung. Die Stellung des Kindes.

Ich wollte gerne anfangen, weil ich mir die Begleitung einer anderen Person noch schwieriger vorstellte – woher wissen, was die andere Person will oder macht?
Und dann war es gar nicht so schwer. Auch hier einigten wir uns vorab, wo berührt werden durfte, wo nicht und mit welcher Intensität, welche Gesten, Start und Stop signalisieren sollten. Es ist verrückt, so eine intensive, intime Erfahrung mit einer anderen Person zu machen, die 1 nicht kennt. Zu vertrauen, die Aufmerksamkeit zu schenken.

Es ist unglaublich bereichernd, so einen Raum erlebt zu haben. Wo es keine Maßstäbe für Geschlecht und Körper gibt, keine Bewertung von Teilnahme und Ausführung. Wo es keinen Druck gibt, mitzumachen, keine Erwartung an eine zu erbringende Leistung. Wo Unsicherheiten ausgesprochen werden können, wo Menschen und Gefühle im Raum stehen können, wie sie sind – ohne Kommentar. Das ist die gelebte Utopie.

Im Garten haben wir gegenseitig unsere „Meine Grenze wird gewahrt“-Pose skulpturiert – also verkörpert dargestellt. Wie fühlt es sich an, den Ausdruck (an) der anderen Person zu sehen? Wie fühlt sich die darstellende Person in der Pose der anderen? Wir haben in einem Rundgang jeweils alle Skulpturen angeschaut und bezeugt.

Einen „automatic writing“-Text nach einer geführten Körpermeditation konnten wir in ein Bild transformieren – auch hier gab es einen Rundgang, um die anderen Werke zu sehen, alle sehr unterschiedlich. Mein Gefühl und mein Bild waren mir sehr klar, die Symmetrie überraschte mich – wie zwei Sonnen, die sich in einer vertikalen Achse in einer Art Meer / Strom spiegeln. Ein roter Fokuspunkt mein Kopf, die Konzentration, der andere mein Po, die Verbindung zum Boden, dazwischen ein angenehmes, vor und zurück schwingendes Nichts, Ruhe und Präsenz.

AMBIVALENZ – SAUNA – TEILNAHMESPEKTRUM

Ich hatte zwischendurch immer wiederkehrende negative Gedanken an dem Wochenende, soziale Ängste, für komisch gehalten zu werden – für mein Aussehen, für mein Verhalten, aber vor allem Ängste bzgl. des „Danach“ – wie würde ich den Wiedereinstieg ins Leben mit Kindern schaffen, hatte ich mir zu viel herausgenommen mit diesem Wochenende, würde der Schulstart gelingen, hatte ich mich selbst wieder überfordert, weil ich zu viel gewollt hatte? Zum Glück gelang es mir meistens schnell, diese Gedanken wegzuschieben und mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, all das Gute im Moment wahrzunehmen.

Es blieb in Teilen eine Ambivalenz bestehen. Am Sonntagmorgen fragte ich mich, ob mein Kooperationskontingent bereits aufgebraucht war von den zwei Tage zuvor.
Ich hatte schon öfter meine bisherigen Grenzen überschritten, mich den Herausforderungen gestellt – und es war empowernd und gut gewesen, ich hatte etwas Neues probiert und eine neue Erfahrung gewonnen.

Es ging plötzlich noch einmal tief – auf eine sehr konkrete, strukturierte Art und Weise, ein Arbeitsblatt zur Reflexion von körperlichen Erfahrungen, wo wir uns unwohl gefühlt hatten und wie wir einmal „weniger gut“ und einmal „gut“ damit umgehen hatten können, um den Blick auf unsere Ressourcen zu lenken. Wir tauschten uns in Kleingruppen dazu aus und ich habe es als hilfreich und schön erlebt, mit eher noch fremden, wohlwollenden Personen über schwierige, persönliche Dinge zu sprechen und – wie bei den Listening Turns – primär auf ein Gegenüber zu treffen, das primär zuhört, validiert und Mitgefühl äußert.

Generell liebe ich diese strukturierten sozialen Interaktionen, wo angeleitet ein Austausch stattfindet – mit einem klar definierten Thema, einer konkreten Zeitvorgabe, vorgegebenem Interaktionsmuster, wo eindeutig ist, worüber gesprochen wird, wann Anfang und Ende ist, wer welche Rolle hat.

Nachdem wir Ressourcen – verteilt auf drei Ebenen – in der Gruppe gesammelt hatten, konnte jede Person in einer Geste, Pose, Laut vormachen, wie es ihr gerade geht und die Gruppe hat diesen Ausdruck wiederholt, gespiegelt – auch eine crazy Erfahrung. Neben einer verbalen Abschluss- und Reflexionsrunde konnten wir uns selbst Briefe schreiben, die uns in einem halben Jahr zugeschickt werden. Vielleicht ein bekanntes Tool – ich finde den Gedanken schön und bin gespannt, was ich zu dem Zeitpunkt darüber denke, was ich geschrieben habe, mir sagen wollte und welche Themen sich bis dahin wie entwickelt haben werden.

Und: Ich war in der Haus eigenen Sauna! OMG!!!!1111!!!11! 3x und habe danach draußen unter Sternenhimmel (ok, leicht bewölkt) im Garten geduscht. How crazy and amazing can it get? Dazwischen leicht fröstelnd am Lagerfeuer sitzen – und eigentlich war es mir irgendwann zu spät, aber alles mitnehmen und so. Und meine Sauna-Begleitpersonen waren auch einfach so nett und toll.
(Ich habe schon länger davon geträumt, weil ich wissen wollte, wie sich die Hitze anfühlt, weil ich festgestellt habe, dass ich (temporär als Reiz) „extreme“ Temperaturen mag. In eine öffentliche Sauna werde ich mich wahrscheinlich in naher Zukunft nicht trauen, da es mir dort einfach zu viele fremde, potenziell trans*feindliche Menschen sind.)

Besonders heilsam und spannend für mich war das Erlebnis des Spektrums von Teilnahme, in dem ich mich – in meiner Wahrnehmung – irgendwo in der Mitte befunden habe, zwischen all in und all out. Andere queere Personen an ihrem aktuellen Punkt der Entwicklung zu erleben – ihren Unsicherheiten, ihrem körperlichen Ausdruck, ihren Fragestellungen -, hat mir verdeutlicht, wo ich gerade stehe, was ich bereits geschafft habe, wo ich noch hin möchte, woher ich komme. Es war schön zu erleben, dass alles sein darf – und es keinen äußeren Zwang gibt, irgendwie (schneller, besser, …) zu sein oder zu werden.

Ich denke, solche Erfahrungsräume sind extrem wichtig – für gender-nonkonforme Menschen. Es ist so außergewöhnlich, einmal nicht bewertet, nicht kategorisiert, nicht (an irgendetwas oder irgendeins) gemessen zu werden. Nicht überall mitmachen zu müssen, nicht sprechen zu müssen, wenn 1 gerade nicht will. Diese ernst gemeinte Einladung, unsere Grenzen zu erkennen und zu wahren, nur Verbindungen unter den Bedingungen einzugehen, die wir wollen, und Ressourcen in uns und anderen zu finden, sollte eine Selbstverständlichkeit sein – wie sie in meiner Erfahrung im Alltag quasi nie vorkommt. Ich habe das als großes Geschenk erlebt und nehme viele Impulse daraus mit.

Vielen Dank an lila_bunt, Zaf, Jespa und alle Teilnehmenden!

Falls ihr als queere Person mal an einer Veranstaltung bei lila_bunt teilnehmen wollt und euch die Teilnahme alleine nicht leisten könnt, meldet euch gerne bei mir und ich übernehme bis zu 50€ der Kosten.

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Alltagslyrik

Sendepause

Friedlich klingt er, der Vogelgesang, doch
schaue ich mich um, Blicke in die Ecken wie
überquellende Blumentöpfe hängen zwei
Katzen über dem Balkongeländer beobachten
mich und mit der S-Bahn fahren laute Stimmen

in mich hinein; es riecht nach Pisse – Von Wegen
Lisbeth – und Backwarenmief und der Zug fiept
und brummt wie eine Meerschweinchenmaschine;
für meine kleine Odyssee möchte ich mich
mit allen Sinnen vor Sirrendem verschließen.

Lustig, Reiten im Juli – Zeh – und sie hat doch
Recht, eine Form von Fokus und in Beziehung,
im Moment und in Bewegung sein, flexibel an-
nehmen, nachgeben, führen, davon getragen
werden. Othernde Blicke und Liebe empfangen,

keine Nachrichten von da, wo eine Grenze gesetzt
werden will, wo meine Erwartung falsch war, weil
ich nicht dich getäuscht habe, sondern mich selbst.
Die Erzählung bekommt einen neuen Namen, der
mit mir identisch ist, und weitere Fesseln fallen, frei.