[CN: Der Text enthält einige inhaltliche Details des Romans „Never anyone but you“ von Rupert Thomson. Inhaftierung, Folter, Mord, Nazis, Suizid, Esstörungen, psychische Erkrankungen, implizite Queerfeindlichkeit werden erwähnt.]
„Never anyone but you“ von Rupert Thomson ist ein sehr lesenswerter, queer-historischer Roman, der auf vielen verschiedenen Ebenen mit mir resoniert hat.
Sprache
Unabhängig von den vielen inhaltlichen Facetten finde ich den Text auch sprachlich und erzählerisch sehr gelungen. Die Beschreibungen von Landschaften, Wetter, Atmosphären und Personen erscheinen mir unglaublich organisch – prägnant, aber auch poetisch, dabei völlig unaufdringlich und wahrhaftig.
Die Erzählung fließt buchstäblich dahin und umhüllt die Leser*in mit einem Seidentuch, das mal kühl, mal weich ist, kurz eng, oft weit ist. Es ist bewundernswert, wie Gegenwart und Vergangenheit, Träume, Erinnerungen und Beobachtungen nahtlos ineinander übergehen und ein kohärentes Bild entstehen lassen.
Die Ich-Perspektive gibt Suzanne Malherbe (Pseudonym Marcel Moore) eine Stimme, der langjährigen Partnerin von Claude Cahun (Geburtsname Lucy Schwob), und erzählt deren Liebes- und Lebensgeschichte, die Anfang des 20. Jahrhunderts beginnt und bis in die Nachkriegszeit reicht.
Queerness
Claude wäre in heutigen Begriffen wahrscheinlich eine nicht-binäre oder genderqueere/-fluide, bi-/pansexuelle Person. Das Label „Lesbe/lesbisch“ für ihre Identität und Beziehung zu Suzanne/Marcel zu verwenden, ist denke ich, in einem breiten und offenen Verständnis des Konzepts dennoch gerechtfertigt, sinnvoll und zutreffend.
Es ist unglaublich faszinierend, in diesem fiktionalen Detailreichtum über (gender)queere Personen in der Geschichte zu lesen. Alles erscheint mir so nah – emotional, aber auch zeitlich, als könnte es heute sein.
Weder ein Mann noch eine Frau zu sein, sich weder nur für Frauen noch nur für Männer zu interessieren. Sich von bestimmten Personen angezogen zu fühlen, die etwas verkörpern, das 1 selbst gerne hätte / wäre. Begehre ich diese Person, weil ich sie sein will? Weil ich mit dieser Person sein kann, wie ich sein will.
Kunst
Claude und Marcel waren Teil der künstlerischen, speziell surrealistischen Szene von Paris der 1920er und 1930er Jahre rund um Dalí und Breton. Sie waren publizistisch und grafisch tätig, haben mit Fotografie und Performance experimentiert – vor allem getrieben von Claudes innovativen Ideen. Claudes androgynes Auftreten und ästhetischen Ausdrucksformen beeinflussten später z.B. Cindy Sherman.
Sie blieben immer eher Randfiguren und führten ein recht zurückgezogenes Leben – auch um – mal mehr mal weniger bewusst – keine Aufmerksamkeit auf ihre Liebesbeziehung zu lenken. Die Szene war außerdem insgesamt – wer hätte es gedacht (Ironie) – sehr hetero-cis-männlich dominiert. Frauen waren dort oft nur „schmückendes Beiwerk“, „Musen“, „Sexobjekte“.
Interessant fand ich die Passagen zu „automatischem Schreiben“ oder die „Entdeckung von Träumen“ für künstlerische Produktivität. Ich selbst träume so viel, intensiv und real – ich könnte ganze Bibliotheken, Galerien und Mediatheken damit füllen, würde ich alles sofort festhalten und als Material nutzen.
Beziehung
Claude wird als eher „exzentrisch“, „psychisch instabil“ und „bindungsunsicher“ beschrieben. Sie begeht mehrere Selbstmordversuche über ihr ganzes Leben hinweg und leidet an einer anorektischen Essstörung, Schlafstörungen, raucht Kette. Eine Person, die primär Extreme kennt und sucht.
Suzanne/Marcel tritt als die „bodenständigere“ Person, die Konstante in ihrer Beziehung auf, unterstützt und begleitet Claude über deren künstlerische, psychotische und auch zerstörerisch-gewaltvolle Phasen hinweg – bis zu ihrem Tod.
Ich fand es sehr berührend und plausibel, wie die Ambivalenz zwischen der (fast) unerschütterlich starken Bindung und der schockierend disruptiven Verletzlichkeit ihrer Beziehung beschrieben wird. Die Perspektive einer Person, die mit den psychischen Erkrankungen ihrer Partnerperson umgeht, die über verbale, körperliche und emotionale Verletzungen hinweg an der Liebe und der anderen Person festhält.
Nazis
Claude und Suzanne/Marcel werden 1943/44 von den Nazis auf der Kanalinsel Jersey, wo sie seit einigen Jahren leben, für ihre Widerstandspropaganda inhaftiert und zum Tode verurteilt. Nur durch misslungene Selbstmordversuche im Gefängnis entgehen sie der Deportation ins Konzentrationslager und kommen zum Kriegsende frei. Ihre Villa wurde geplündert und ihr künstlerisches Werk weitgehend zerstört.
Sie sehen Gruppen von Zwangsarbeitenden vorbeiziehen und eine Mauer direkt vor ihrem Grundstück bauen, verstecken einen Geflohenen längere Zeit bei sich, hören aus erster Hand von den unvorstellbaren Grausamkeiten und der systematischen und opportunistischen Entmenschlichung.
Ich sehe auf meinen Spaziergängen die Stolpersteine im Viertel noch bewusster als sonst – vor gut jeder dritten Haustür – ermordet, deportiert, überlebt. Ich erinnere mich an die Lektüre von Jean Amérys Texten über seine Arbeit im Widerstand, seine Flucht, seine Inhaftierung, die Folter, die Zwangsarbeit, die Zeit im KZ, die ich vor einem Jahr gelesen habe. Die Graphic Novel „Rosa Winkel“, viele Szenen aus Klaus Theweleits „Männerphantasien“, meinen Besuch in Auschwitz in der 10. Klasse, die Kleiderhaufen, die Fotos von ausgezehrten Leibern und Leichenbergen.
Sie hätten auch für ihre Liebe, ihre nonkonforme Kleidung und Kunst oder Claude für ihre Abstammung inhaftiert werden können – so viele queere Dinge vereint in zwei Personen, die Nazis hassen und auslöschen wollen.
Es kann so schnell gehen – aus einem Leben, aus dem, was mensch für „Normalität“ hielt, was mensch sich als „safe space“ geschaffen hatte, herausgerissen zu werden.
Klasse
Apropos Villa. Beide kamen aus reichen, bürgerlichen Familien und lebten vor dem Krieg ein finanziell sorgenfreies Leben zwischen Bohème und Bourgeoisie. Monatliche Alimente und elterliches Erbe inklusive. Es erscheint mir fast absurd, dass so ein Leben möglich war – komplett fokussiert auf das eigene Schaffen und Sein.
Geld haben ermöglicht Einiges, aber nicht alles.
Unsichtbarkeit
Spannend finde ich, dass Claudes und Suzannes/Marcels Beziehung ein Bespiel für die „Unsichtbarkeit“ lesbischen Lebens ist. Da sie offiziell Stiefschwestern wurden, konnten sie ihre Beziehung unter diesem Deckmantel recht gut verstecken und wurden als „ungefährlich“ wahrgenommen. Sie ziehen sich bewusst zurück und schätzen die zweisame Abgeschiedenheit bis auf wenige Besuche alter Freund*innen aus Paris. Wahrgenommen als „ältere Damen“ können sie ihre Widerstandspropagandaaktionen lange unentdeckt durchführen.
Nach dem Tod von Claude lebt Suzanne noch fast 20 Jahre alleine auf Jersey. Die Schilderung ihrer Einsamkeit ist erschütternd; sie genießt die soziale Zuwendung eines jungen Handwerkers, der Einkäufe und kleinere Tätigkeiten für sie erledigt, bevor auch ihre Stimme für immer verstummt.
Es ist wirklich ein Geschenk, dass dieses Paar, diese Personen in diesem Roman lebendig werden und aus der Unsichtbarkeit heraustreten.