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Dies ist mein letztes Lied

[Inhaltswarnung: Der folgende Text enthält inhaltliche Details der Novelle „Dies ist mein letztes Lied“ von Lena Richter. Wenn du diese nicht erfahren möchtest, überspringe den Abschnitt „Welten und Lieder“.]

Die Novelle „Dies ist mein letztes Lied“ von Lena Richter hat mich sehr berührt.

Vielleicht weil ich gerade krank und ein bisschen down war.
Vielleicht weil Periode und noch mehr feels und verletzlicher als sonst.
Vielleicht weil ich schon bei der Beerdigung in Sex Education am Tag zuvor geweint hatte.

Aber nein.

Dies ist einfach ein unglaublich vielschichtiges Buch, das auf jeweils wenigen Kapitelseiten mindestens acht verschiedene Welten entwirft und dabei so viele unterschiedliche Charaktere, gesellschaftspolitische Themen und urmenschlichen Gefühle aufruft, dass es eine wahre Freude (und gleichzeitig tief traurig) ist, Qui durch die Portale zu folgen, die Qui durch Musik erscheinen und Qui verschwinden lassen.

Welten und Lieder

Quis Reise beginnt auf Deriton 5, wo alles Leben dem Corps gehört und ein Entkommen aus der hyperkapitalistischen Hölle (ähnlich einem Dorf, in dem die ganze Familie seit Generationen auf ein und dieselbe traditionelle und bequeme Weise lebt) im jugendlichen Überdruss erstrebenswert und möglich scheint, aber irgendwann zwischen endlosen Arbeitschichten, blinkenden Shopping Malls und bunten Cocktails mit einsetzender Trägheit in Vergessenheit gerät. So ist Quis erstes Lied eines von verlorenen Träumen.

Auf Kexxil glaubt Qui noch, auf einer Held*innenreise zu sein – also von einer höheren Macht auserwählt, um Großes in der Galaxis zu vollbringen – wie den Krieg zwischen Tag- und Nachtseite des Planeten beizulegen, der seit unbestimmter Zeit der einzige Lebensinhalt der Bewohnenden ist – ohne dass sich noch irgendeins an dessen Grund erinnern könnte oder wollte. Qui mag sich für keine Seite entscheiden und spielt ein Lied für das Zwielicht.

Qui wird darauf das temporäre sechste Mitglied einer queeren Wahlfamilie, die eine ganze kryokonservierte Population von Menschen in einem Raumschiff – Silemon VII – zu einer neuen Heimat begleitet, nachdem die Sonne ihres Planeten frühzeitig erloschen ist. Die Reise wird ihre eigene Lebensspanne voraussichtlich überschreiten. Qui erfährt, welche Wirkmacht Gemeinschaft entfalten kann, und so ist Quis drittes Lied voller Hoffnung – auch wenn der Aufbruch immer einen Abschied bedeutet.

Auch dem Planeten Yular ist das Schicksal nicht gnädig. Während Qui mit deren Musik und dem LoopTrain durch die Dörfer und Städte reist und einiges an Popularität gewinnt, streift ein Asteroid die stillgelegte Atomarstation im Orbit. Ein Unglück, das binnen weniger Tage alles Leben auf Yular für immer zerstören wird – und dem Großteil der Galaxis ist es egal. Die, die Geld und Beziehungen haben, können sich retten – die anderen bleiben zurück. Qui sammelt verzweifelt noch ein paar Spenden ein und spielt, während alles rundherum zusammenbricht, ein Lied über die Gleichgültigkeit.

Ins Bodenlose gefallen, traumatisiert und desillusioniert von den Ereignissen erwacht Qui als gestaltlose, graue Wolke in der virtuellen CloudWelt von Veringhall, während Quis Körper irgendwo auf einer Liege mit allem überlebensnotwendigen versorgt wird. Langezeit bleibt Qui namen- und antriebslos und verweigert sich jeglicher sozialen Interaktion oder kreativen Gestaltung eines Avatars oder „Second Life“. Der vollständig harmonisch für hedonistischen Eskapismus konstruierte Ort lässt jeden Raum für Quis Depression, bis Qui eine Gruppe von Musiker*innen – das Wiederspiel – kennenlernt, die vergessene Stücke vergangener Zeiten wieder aufführen. Qui schließt sich an und fasst neuen Mut mit dem fünften Lied der Gemeinschaft.

Doch Quis nächster Aufenthalt auf einem unbekannten, menschenleeren Planeten wirft Qui komplett auf sich selbst zurück. Anfänglich physisch geschwächt vom virtuellen Leben muss Qui lernen, in Gegenwart von unberührten Natur, wenigen Vögeln, Käfern und Pflanzen sich selbst genug zu sein. Gefühle von Einsamkeit, Ausweglosigkeit und Sehnsucht beschäftigen Qui während der steten Anpassung an einen Lebensraum, der weder menschenfreundlich noch -feindlich ist. Nach einiger Zeit findet Qui Trost in den Rhythmen und Klänge der vertrauten, vormals stummen Natur und spielt das sechste Lied nur für sich.

Die Menschen auf Tzrilic sind erschrocken über Quis verwahrloste Erscheinung und Qui ist geblendet und überwältigt von der gleißenden Helligkeit und lärmenden Zivilisation. Im Krankenhaus trifft Qui auf T’irl und zusammen entdecken sie die Geborgenheit erwiderter Liebe, gemeinsamer Rituale und geteilter Zeit und Gegenstände. So gerne Qui für immer in diesem Gefühl, diesem Leben, dieser Beziehung verharren würde, so sehr zieht es an Qui und Qui muss weiter. So ist das siebte Lied für T‘irl von der Dunkelheit und von den Dingen, die nicht sein konnten.

Auf Lekkoka kehrt Qui in den Hyperkapitalismus zurück, wo alles eine Show und ein Business ist. Qui ergibt sich – taub, gleichgültig und müde – der geschäftigen Oberflächlichkeit und einer einflussreichen Musikmanagerin, weil Qui weiß, dass das nächste Lied das letzte sein wird. Im Bewusstsein, dass dieser Auftritt nur das nächstbeste ausschlachtbare Event und Qui ganz alleine auf dieser in die ganze Galaxis übertragenen Bühne ist, erkennt Qui plötzlich, nicht ohnmächtig und einsam, sondern mit allen Begegnungen verbunden und darin selbstwirksam zu sein. Qui spielt das letzte Lied voller Möglichkeiten.

Phantastische Tiefe

Es ist, als hätte mensch über jede Welt einen 400-Seiten-Roman gelesen, so eine Tiefe und Komplexität haben die skizzierten Landschaften, Gesellschaften und Figuren. Und wie wohltuend ist es eigentlich, eine Vielzahl an Neopronomen zu lesen, die sich ganz selbstverständlich in den Text und die Identitäten einfügen.

Ich selbst mache mir gar nicht viel aus Musik und obwohl sie ein zentrales Motiv der Novelle ist, spielt es – aus meiner Sicht – keine Rolle, weil sich die Bedeutung unabhängig von der konkreten kreativen Ausdrucksform ergibt.

Es ist eine Geschichte über das In-die-Welt-geworfen-sein und die damit einhergehende Macht- und Fassungslosigkeit gegenüber dem Schicksal und der Grausamkeit, die eins den Sinn allen Lebens in Frage stellen und aufgeben wollen lässt. Und es ist eine Geschichte über das Entdecken der eigenen Handlungsfähigkeit und Wirkmächtigkeit, der Ambivalenz und des Spektrums von Gefühlen – in Verbindung mit anderen und sich selbst.

Ich habe beim Lesen nicht nur einmal geweint und hoffe, Lena Richter schreibt noch mehr so progressiv phantastische Bücher.

Aufmerksam geworden bin ich auf die Novelle durch den Genderswapped-Podcast, wo die Autorin eine der beiden Hosts ist.

Eine Antwort auf „Dies ist mein letztes Lied“

Da ich gar nicht weiß, ob du auch irgendwo auf Social Media unterwegs bist: Ganz herzlichen Dank für diese tolle und ausführliche Rezension, es freut mich sehr, dass das Buch dir so gut gefallen hat.

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