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Leben

Ponyhof

Heute wäre ein Tag schön, einfach nur zum Denken und Fühlen.
Um Nachzudenken, um Nachzuspüren, um allem genügend Raum geben zu können, was noch in mir verborgen ist.

Aber ich fahre mit meinen Kindern in den Urlaub.
Ich dachte gar nicht, dass ich mich noch irgendwie dazu bereit fühlen und es eine leise Stimme in mir geben könnte, die mir gut zuredet und mich verhalten hoffnungsfroh auf die nächste Woche in fremder Umgebung, mit unbekannten Menschen, mit ungewohnten Abläufen und ungewissem Essen blicken lässt.

Die letzten sechs Wochen habe ich verstanden und gefühlt wie nie, dass das, was ich erlebe, Depression ist. Und die Grenze meiner Belastbarkeit schon lange überschritten war, bevor ich bereit war, mir diese Pause und diesen Zustand zuzugestehen. Weil es geht ja noch und immer weiter. (Und was ist, wenn ich einmal stehen, für immer hier liegen bleibe?)
Die Ausweglosigkeit, die konstante Anspannung, Erschöpfung und Überforderung, der Wunsch, dass alles einfach aufhört und ich endlich, endlich absolut nichts mehr machen muss, das Gefühl, jeden Moment weinen zu können*müssen, an meiner mentalen Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln, mich als gescheitert und versagt habend zu erleben, als unfähig, Dinge zu tun, Dinge zu entscheiden.

Gestern hat mir Therapie das erste Mal gut getan – vielleicht war es die Doppelstunde, die genug Zeit und Raum lässt, wirklich in einer Tiefe über das zu sprechen, was mich bewegt und belastet.
Ich habe das Gefühl, wieder zu mir als kompetenter und sich selbst vertrauender Person zurückgefunden zu haben, die ich in der Zwischenzeit unter der Last der Termine, Verantwortung, Sorgen, Ängste und (Selbst-)Zweifeln verloren hatte. Ich kann mir wieder ein gutes Leben (für mich) vorstellen.

Wir haben über das Narrativ gesprochen, das ich über mich erzählt wissen will und von welchem bzw. welchen ich mich noch weiter lösen möchte.
Für mich ist meine Geschichte die einer schrittweisen radikalen Befreiung von familiären und gesellschaftlichen Zuschreibungen, denen ich mich lange unterworfen, an die ich selbst geglaubt habe und dachte, die damit verbundenen Lebensentwürfe, privaten und beruflichen Leistungsideale realisieren zu müssen. Anscheinend habe ich Gesehenwerden und ein Gefühl von Verbundenheit von meinen lebenslangen Anstrengungen erwartet – and all I got was fifty shades of mental illness.

Ich habe schon viel hinter mir gelassen – das Geschlechtersystem, die heteronormative Kleinfamilie, Beziehungen, die mir nicht gut tun, eine dissoziativ-destruktive Haltung zu meinem Körper, ein romantisiertes Bild von Elternschaft.
Jetzt geht es dem Kapitalismus / Neoliberalismus an den Kragen.
Ich möchte einfach nicht mehr aktiver Teil dieses Systems sein, das Menschen, Tiere und Umwelt unter dem Deckmantel von „Fortschritt und Weltrettung durch Technologie“ bis zur Vernichtung jeglichen Lebens ausbeutet. Ich möchte an eine solidarisch-ökologische Utopie glauben, die Fürsorge zentriert, und wenn auch nur winzige Schritte in diese Richtung gehen.

Ich wünsche mir sehr, dass dies ein neuer Anfang, eine weitere Etappe auf meinem Weg ist, der mich der Person näher bringt, die ich sein kann und will.

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Leben

Raumzeitdiskontinuum

Dieses Jahr werde ich so alt wie mein Vater war, als er, wie er sagt, aufgewacht ist. Fast ausgestiegen aus einem Leben und dann doch noch einmal neu angefangen. Aufgehört mit der Anpassung, die keine*r bemerkt und die dennoch zerstört hat.

Ist es die Transition? Ist es diese zweite Pubertät? Oder doch einfach das Leben.
Werde ich jetzt (erst) erwachsen oder warum lerne ich so viel – eigentlich jeden Tag über mich.
Ist es eine Heilsgeschichte? Bin ich die Reinkarnation meines Vaters, sein Sohn der Messias, der gekommen ist, um sein Leben immer mindestens als eine 2+ zu empfinden.

Habe ich jetzt die Pubertät meiner Mutter, in leichten Variationen, aber in den unscharfen Untiefen und der Dramatik der gefühlten Einsamkeit präzise, noch einmal aufgeführt, um nun die assistierte Selbstheilung in einer Tour de Force der Selbstreflexion, Selbsterkenntnis und Selbstwirksamkeit des anderen Elternteils nachzuvollziehen?

Es ist unverschämt, wie viel eine Enttäuschung ist.
Es ist ein ständiges Abschiednehmen von falschen, überzogenen Erwartungen. An Menschen, an Institutionen, an Gesellschaft, an Wissenschaft – an mich selbst. An Beziehungen, an Urlaub, an ein Leben in Lohnarbeit und mit Kindern. Ist das diese Entzauberung, die Banalität der Existenz?

Ich sehe, was gut ist, und ich fühle mich schlecht.
Ich möchte mein Recht auf Wut, Enttäuschung und Trauer behalten.
Wer hat mir das alles versprochen und nicht gehalten?

Ich lerne mehr, was mir gut tut. Raum und Zeit für meine Gedanken und Gefühle ist gut. Zeit und Raum für Übergänge ist wichtig. Es gibt den verletzten Wunsch nach Gemeinschaft und Gemeinsamkeit, aber eigentlich bin ich sehr gerne für mich. Ich mag meine Sparsamkeit und meine Routinen.

Da ist Stolz, dass ich den Mut aufgebracht habe, für all die Experimente, ein klassisches Trial and Error. Dass ich losgegangen bin mit der Angst im Nacken, in die Ungewissheit. Vielleicht ist die gespiegelte Coolness und Abgeklärtheit nur eine schweißgetränkte Schockstarre.

Gerade bin ich müde und ernüchtert von meinen Ausflügen in mögliche alternative oder supplementäre Welten. Und randvoll mit Erkenntnissen und Erfahrungen.
Und wenn ich ein bisschen ausgeruht und verdaut habe, ziehe ich wieder los in den erweiterten Handlungsspielraum – vielleicht mit einem feiner justierten Bedürfniskompass und einer nuancierteren Gefühlslandkarte.

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Leben

Freizeitkörperkulturgeschichte

In meiner Geschichte gab es eine Zeit, da hatte ich praktisch keinen Körper und theoretisch Freizeit. Darauf folgten Jahre ohne praktische Freizeit und einem theoretischen Körper und gerade habe ich eine Evolutionsstufe erreicht, in der ich praktisch und theoretisch (m)einen Körper und (m)eine Freizeit habe, also in der Theorie einen sehr praktischen Freizeitkörper.
Ich frage mich, was dieser Körper in seiner Freizeit alles hätte sein können, wenn ich früher die Form und den Raum für ihn gefunden hätte, die Kraft und das Zutrauen, die wir uns jetzt gegenseitig schenken (könn(t)en).

Wie ich so durch die Landschaft laufe, fällt mir auf, durch wie viele deutsche Berg-, Wald- und Seegebiete ich in meinem Leben schon gewandert bin und wie glücklich ich mich deshalb schätzen kann, könnte. Manchmal neige ich dazu zu glauben, alles in der Vergangenheit – vor der Lennwerdung – schlecht finden, abwerten zu müssen. Als dürfe es in meiner, der damaligen Form nicht zumindest in Teilen gut gewesen sein, was ich (mit anderen) erlebt habe. Wie immer erinnere ich mich vor allem stark an die Anstrengung, die permanente Anspannung. Ob und was ich überhaupt gegessen habe, keine Ahnung. Es ist ein Wunder, wie ich in diesem Zustand der Selbstenergievorenthaltung, diese Dinge tun konnte. Was (s)ich nährte, war ein gewisses Unterlegenheitsgefühl, das körperlicher Natur war, sich aber auch auf andere Freizeitaktivitäten erstreckte, und ich immer bei mir trug.

Jetzt, wo ich dieses kraftraubende Biest in weiten Teilen abgeschüttelt habe, das vor lauter Angst beständig auf die Bremse trat, kommt das kleine, zähe, unersättliche Tier, das ich bin, mehr und mehr zum Vorschein und in Fahrt. Ich könnte alles in Grund und Boden rennen. Diese körperliche Grenze der totalen Erschöpfung (oder Entspannung?) zu finden, scheint ein roter Faden in der Erzählung zu sein. Der Energieentzug unter erhöhter Aktivität hat es nicht gebracht, andere Körper mit meinem Körper erschaffen und nähren auch nicht – denn das kann mensch aus verschiedenen Gründen nur sehr begrenzt tun -, also drängt es meinen Körper weiter, sich in seiner Freizeit frei und entgrenzt zu fühlen. Es ist, als wäre ich kryokonserviert gewesen und meine ganze Kraft und Energie für diese Phase aufgehoben.

Es erstaunt mich ungemein, was ich über mich (selbst) lerne, seitdem ich mir 1 Lennz mache. Mir wurde gesagt, ich sei extrem, radikal und konsequent. Und es stimmt – auch wenn ich denke, dass ich viel weicher geworden bin, in vielen Dingen. Ich erschien mir immer so leise, zurückhaltend und dezent. Wahrscheinlich schließt es sich nicht aus. Nun erkenne ich also, dass ich körperliche Reize suche, um mich zu fühlen. Ich spüre gern den Boden unter meinen Füßen. Ich fahre mit den Fingern über Oberflächen. Ich brauche knackiges Essen, an dem mensch kauen muss. Ich mag eiskaltes und heißes Wasser auf meiner Haut. Ich liebe es, Sex zu haben und generell in Bewegung zu sein, weil ich dann nur noch Körper und voller guter Gefühle bin. Und frei habe von meinen Gedanken oder diese ordnen kann. (Bestimmte) Sensorische Wahrnehmungen beruhigen und beglücken mich.

Seitdem ich eine theoretisch-praktische Freizeitkörperkultur habe, stellt sich eine naiv hedonistische Erwartung ein, immer das Optimum an Freizeit und Körperlichkeit herausholen zu wollen und zu müssen. Das kann nur schief gehen.
Entweder scheitere ich an mir selbst, weil ich mir immer noch eine optimalere Nutzung oder perfektere Option vorstellen könnte (oder erst gar nicht weiß, was ich gerade grundsätzlich will; oder den zeitlichen Aufwand, die finanzielle Investition, die soziale Interatkion scheue, weil ich unsicher bin, ob dies das gefühlte Er(g/l)ebnis rechtfertigt), oder ich scheitere an anderen, die – verständlicherweise – meine Bedürfnisse und Wünsche nur in Schnittmengen oder in dem Moment gar nicht teilen. Die ausgeprägte Unverfügbarkeit der absoluten Stimmigkeit ist eine außerordentliche Unverschämtheit.

Manchmal schäme ich mich für meine weitenteils unbegründete Undankbarkeit und Unzufriedenheit, weil ich mir vorkomme wie ein trotziges Kind, das das bestellte Erdbeereis bekommen hat, aber doch lieber die Pommes gehabt hätte oder beides oder doch lieber das Ninjagoheft und nicht gleich erst, wenn es in das Gesamtgefüge passt, sondern jetzt sofort. Vielleicht ist es die Gier nach der Wüste, dass ich nur noch in der Oase leben will, rundrum bestmöglich bewässert.
Doch ich wachse auch so. Vor allem seitdem ich mir selbst nicht mehr das Wasser abgrabe.

Es fällt mir schwer, meine Abhängigkeit von anderen zu akzeptieren. Ich muss mich immer wieder in meiner Autonomie sonnen und mich meiner eigenen Widerstandsfähigkeit vergewissern. Oft verzichte ich lieber auf Möglichkeiten, um Ungewissheit, Konflikte und Kontrollverlust zu vermeiden, die mit Bindung kommen. Ich glaube, mir fehlen einige Beziehungserfahrungen aller Art, ein Repertoire an sozialem Training, das ich verpasst habe in den Zeiten der Isolation, im Zombiemodus. Einige Ängste sind noch da und hemmen mich.

Mein Gefühl sitzt teilweise noch ängstlich in der Vergangenheit, während mein gegenwärtiger Körper viel freier und selbstbewusster sein könnte. Kommentierte und kontrollierte Körper und Gefühle entfalten sich langsam. Es ist schwer, das innere zwölfjährige Kind hinter mir zu lassen, das ich jahrelang, auch in projizierten Augen anderer, war. Eine trans-masc Transition hilft da auch erstmal nur bedingt – zumindest konnte ich so nochmal sechszehn sein. Ich reagiere oft mit Schockstarre auf ‚negative’ Stimmungen und Auseinandersetzungen und brauche lange, um mich selbst wieder zu stabilisieren und ins selbstbewusste Handeln zurückzufinden. Ich merke ich werde besser darin. Es ist viel innere Arbeit.

Vielleicht ist mein Körper einer, der nicht viel Freizeit braucht. Oder ich muss noch besser lernen, meinen Körper und meine Freizeit zu kultivieren.
Vielleicht ist es ok, in der eigenen Freiheit und Körperlichkeit oft ambivalent und eher melancholisch als zufrieden oder euphorisch zu sein.
Und jeden Moment bewusst wahrzunehmen, in dem alles stimmt.

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Leben

Magdeburg Memories

Das erste Mal war ich 2007 mit meinem Vater vor dem Abitur in Magdeburg, weil ich hier Philosophie-Neurowissenschaften-Kognition (PNK) studieren wollte. Ich hatte ein „Gehirn&Geist“-Abo und irgendwie war in dieser Zeit gesellschaftlich alles mit Gehirnforschung irgendwie angesagt – FMRT und so – und mir war noch nicht klar, wie populärwissenschaftlich das alles war. Ok, ich war jung und naiv und neugierig.

Es kam dann alles anders – mein damaliger Freund studierte schon in Dortmund, Statistik, you better run – und irgendwie bin ich anscheinend eher der Typ Mensch (gewesen), der anderen folgt, als das ihm andere folgen. Die Anpassung geht dann aber eben nur so lange sie geht und am Ende ziehe ich alles durch, was ich will.

2011 bin ich dann doch in Magdeburg gelandet. Mein inneres Coming out lag kurz vor dieser Entscheidung und der Fachrichtungswechsel war irgendwie eine versuchte Transition – von einem eher „weiblich“ konnotierten Studienfeld hin zu einem überwiegend „männlich“ assoziierten Bereich. Dass mich niemand als „Junge“ oder „jungen Mann“ wahrgenommen hat, hat mich irgendwie unbewusst enttäuscht und irritiert – auch wenn das damals lächerlich war, überhaupt zu denken, weil mir das alles selbst gar nicht so genau klar war.

Mit in dieses neue Leben hatte ich auch meine alte Beziehung genommen, die wenige Monate zuvor begonnen hatte. Mittlerweile erscheint mir das Ganze total absurd und surreal, wie ein anderes Leben – was es ja auch irgendwie ist. Heiraten, Kinderwollen – das kam wie angeschaltet. Rückblickend wie eine Art Wahn oder Film, der einfach abgelaufen ist. Überwiegend ist mir diese Beziehung, dieses Leben jetzt peinlich.

Mit einer anderen Person und selbst als eine andere Person hier zu sein, fühlt sich größtenteils leicht und vertraut an. Mir fällt auf, wie anstrengend und lang mir Wege vorgekommen sind, wie sehr ich mich abgehetzt habe, weil ich so angewiesen war auf mein System, Dinge zu tun. Kein Moment der Entspannung, weil einfach immer zu viel innere Anspannung. Ein bisschen fühlt es sich wie Verrat an der getrennten Person an, Orte und Situationen zu überschreiben und neu zu besetzen, und ein bisschen seltsam der verbundenen Person gegenüber, für die die neue Schicht die erste ist.

Ich erinnere mich, wie ich mein Fahrrad über die vereiste Domplatte geschoben habe. Wie wir mal im Winter im Park gegrillt haben. Wie ich mich unter Leuten einfach immer unwohl gefühlt habe. An das Hochwasser, wo ganze Stadtteile überschwemmt waren, die Sandsäcke, die Ungläubigkeit. Die Jugendlichen um die Ecke, die mir zugerufen haben „Iiiih, die Hässliche.“ Den seltsamen Mitbewohner, der mit seinem Essen in seinem Zimmer vergammelte. Wie ich mich in meinem Zimmer versteckt habe, um meine andere Mitbewohnerin möglichst nie zu treffen. Die Gebärdensprachdolmetscherinnen meiner schwerhörigen Kommilitonin, die K-Pop-Fan war und wegen der ich DGS gelernt habe. Über die ich “Queer as Folk“ kennenlernte und wie ich total fasziniert von gay romance in “Glee“ war. Wie wir ab und an in ihrem winzigen Zimmer asiatisch gekocht haben und es das Nächste an Freundschaft war, das ich zu der Zeit konnte. An den Mitstudenten, der mir immer „Viel Erfolg“ gewünscht hat, wenn ich aufs Klo wollte, was ich maximal unangenehm fand, und den ich darum beneidete, dass er sein T-Shirt bei über 30 Grad während der Thermodynamikklausur ausziehen konnte und generell um sein männliches Entitlement. 

Nördlich der Stadt ist die Brücke über dem Fluss, wo wir – super cringe – ein Schloss befestigt haben und es kurz danach nicht wiederfinden konnten. Dilettantisch hatte ich unsere Initialen hineingeritzt, weil wirklich Geld ausgeben wollte ich für so einen Quatsch dann doch nicht. In der Stadtmitte das Kinderwunschzentrum neben dem Brunnen mit den Spritzen, der Aufregung, der Verzweiflung. Die Apotheke in Halle, wo ich einen Test kaufen wollte, und völlig fertig mit den Nerven war. Das Warten auf den Anruf, wie viele Zellen es geschafft haben. Das Warten auf den Anruf, ob es geklappt hat. Das christlich angehauchte Gästehaus in dem heißen Sommer mit letzten Klausuren, in dem ich heimlich schwanger und nur für die Prüfungen wieder angereist war. Eine Klausur unter krass schlimmen Schmerzen geschrieben und Podcasts über die lahmste Internetverbindung der Welt runtergeladen. Die erste Rückkehr mit Baby zur Verteidigung im nächsten Jahr. Das nächtliche Umhergehen auf dem Flur der Jugendherberge, um endlich Schlaf zu finden.

Ich weiß noch an welcher Stelle in Buckau ich zu B. bei einem meiner unendlichen abendlichen Spaziergänge durchs Telefon sagte: „Irgendwann muss ich mal eine Therapie machen. Vielleicht so eine Art Körpertherapie, denn so kann ich nicht dauerhaft leben. Ich muss das alles mal sortieren und loswerden, um irgendwie frei zu werden.“ Ich weiß noch zwischen welchen Straßenbahnstationen ich die SMS an S. schrieb: „Das klingt vielleicht komisch, aber kannst du mich ‚Tom‘ nennen?“ 

Einsilbige, kurze Namen, beste Namen. Mein Onkel Thomas aus Köln, von dem wir nicht wissen, ob er schwul ist, mit dem ich gerne befreundet gewesen wäre, aber daraus wurde nichts. Onkel Tommy aus „Luzie Libero“ –  es ist ein bisschen lustig, jetzt ist mir der Name total fremd.

Vorgestern im ‚Neuzeit‘, in der Jetztzeit bedient uns eine junge Frau mit Berliner Pony und ist so freundlich und cool, dass ich mich wieder mal frage, ob es in irgendeiner Form, mit einem anderen Style eine Möglichkeit gegeben hätte, im mir zugewiesenen Geschlecht zu verbleiben, eine Art Sein zu finden, das irgendwie für mich gegangen wäre und einen Sinn, eine Stimmigkeit ergeben hätte. Das ich irgendwie lesbar geworden wäre für mich und andere. Aber am Ende hätte das vielleicht eine temporäre Maskerade sein können, die ich wahrscheinlich eh nie zustande gebracht hätte, weil verkleiden einfach noch nie mein Ding war und niemand – schon gar nicht ich selbst – mir das abgekauft hätte.

Vielleicht muss ich erst noch lernen, Frauen sympathisch und attraktiv zu finden – ganz ohne irgendeine Idee davon, was ich davon hätte sein können. Es ist ein bisschen, wie vor der Transition mit eher männlichen Personen, wo die Grenze zwischen „Ich finde diese Person anziehend“ und „Ich will diese Person sein“ undefinierbar war.

Auch wenn Vieles hier nicht super gut war, fühle ich mich tief verbunden und vertraut mit dieser Stadt. Weil es meine ureigne Entscheidung war, hier zu sein, weil ich mir hier etwas beweisen wollte, weil ich hier jemand Neues und Anderes sein konnte. Weil es ein Bruch war mit dem Davor, das primär durch Dritte bestimmt war. Es war eine kurze, erste Phase von Lennigkeit, für die ich noch nicht ganz bereit war.

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Ambivalenzspektrum

Ich denke, ich bin ein eher konfliktscheuer Mensch. Ich neige eher dazu, mich nach außen hin anzupassen, still zu sein und zu beobachten, wie es so läuft, bis ich die Situation und Menschen, meine Position und Handlungsoptionen darin besser einschätzen kann. In der Vergangenheit ist es mir oft passiert, dass ich meine Grenzen nicht gekannt und nicht kommuniziert habe. Dass ich und andere darüber hinausgegangen sind und ich es ausgehalten habe, bis es nicht mehr ging. Ich will keine „Umstände“ machen und nicht als „komisch“ wahrgenommen werden, weil ich Angst vor Ablehnung und Abwertung habe, wenn ich für meine Bedürfnisse einstehe. In der Konsequenz habe ich viele Situationen und Menschen auch einfach gemieden, die mir Angst gemacht haben. Dieses Ausweichen führte dann zu Scham und Schuld bei mir und Ärger und Enttäuschung bei anderen, weil ich „es“ nicht konnte.

Es gibt eine Handvoll Situationen in meinem Leben, die aufgrund ihrer emotionalen Intensität in diesem Kontext in mir versammelt sind. Und wenn sich wie zuletzt ein neuer Konflikt dazu gesellt, glimmen die alten noch einmal auf und sagen Hallo. 

„Krise als Chance“ heißt es so schrecklich in Küchenpsychologie und Politik. 
Erst in den letzten paar Jahren, vielleicht erst Monaten bin ich tatsächlich soweit in meiner Selbstreflexions- und Abstraktionsfähigkeit gekommen, nicht mehr in meinen akuten Gefühlen bei sozialen Konflikten verloren zu gehen. Gefühle von Angst, Panik, Scham, Schuld, Wut, Ungerechtigkeit, Abwehr, Verletztheit, Kränkung sind immer noch da. Aber es gelingt mir diese bewusster wahrzunehmen, sie zu benennen und ihr zyklisch-sequentielles, retardierend-kontinuierendes Auftreten mit einer gewissen Distanz zu beobachten.

Und was sich erst wieder wie ein Scheitern anfühlt, was es auch ist, und eine Art Rückfall und Rückkehr zu einer „unperfekten“ Version von mir, die ich nicht sein will, trete ich dennoch nicht auf der Stelle, weil die Umstände andere sind und ich ein anderer geworden bin. Es ist so frustrierend und peinlich, fehlbar zu sein. Den stimmigen Punkt von berechtigter Kritik an meinem Verhalten, für das ich die Verantwortung übernehmen muss und will, – zwischen vollständiger selbstzerknirschter Annahme und totaler selbstschützender Abwehr – in mir und der Situation zu finden, ist so unfassbar schwer. Weil es keine Objektivität und Wahrheit jenseits einer intersubjektiven Verständigung darüber gibt, weil all diese Gefühle, gesellschaftlichen und politischen Randbedingungen, historischen und situativen Kontexte ihren Einfluss haben auf das, was wir als individuell und immanent erleben.

Ausgerechnet hatte ich noch etwas über „Skripte“ gelesen – als ein Tool und Beschreibungsinstrument für soziale, normierte Interaktion. Wie viel von dem, was wir sagen, denken und tun, ist wirklich „authentisch“, „individuell“? Wir sind schon vor unserer Geburt eingebettet in Strukturen, die in uns eingeschrieben sind und ständig neu- und umgeschrieben werden. Für mich als Fanboy des Konzeptes „Performativtät“ fügt sich das gut in mein Weltbild ein. Es gibt für alles eine Art Vorschrift / Gerüst, wie es zu tun ist, bleibt aber in der Ausführung offen und flexibel für Adaption durch die Ausführenden (siehe auch (Epi-)Genetik). Es ist wie mit Wittgensteinschen „Familienähnlichkeiten“: Es gibt ein Konzept „Stuhl“ oder „Spiel“, aber nie ließen sich alle Eigenschaften genau definieren, die kein Gegenbeispiel möglich machten.

Im Rahmen von Geschlecht oder Neurodivergenz fällt oft der Begriff „Spektrum“. Ich denke viel über Ambivalenz und die Gleichzeitigkeit von scheinbar gegensätzlichen Dingen, gerade Gefühlen nach. Für sehr viele Fragen, die mich beschäftigen, kann ich zwei binäre Pole definieren, die die Enden eines Spektrums darstellen und ein potenziell unendliches Dazwischen eröffnen. Und irgendwo in diesem Dazwischen bin ich, in vielen Dimensionen.

  • Abwehr – Annahme 
  • Distanz – Nähe
  • Autonomie – Bindung
  • Verletzlichkeit – Intimität
  • Wut – Zuneigung
  • Stärke – Schwäche
  • Abgrenzung – Anpassung
  • Weiterentwicklung – Komfortzone
  • Überforderung – Safe Space
  • Skripte / Automatismen – Individualität / Authentizität 
  • Gesellschaft  – Individuum
  • Scheitern / Fehlbar sein – Gut sein / Gemocht werden
  • Selbstbild – Fremdbild
  • Abwertung – Überhöhung
  • Selbstverwirklichung – Sicherheit
  • Alien sein – Privilegien besitzen
  • Resilienz / Klarkommen – Therapie / Unterstützung brauchen
  • Verhalten / Performance  – Identität / Charakter
  • Sichtbar queer sein – Passing / Unsichtbar sein

Am besten kann ich mir das mit Farben im Raum vorstellen. Das Farbspektrum jedes Spannungsfeldes wird durch die definierten Farben der zwei Pole vorgegeben. Wie groß die einzelne „Wolke“ ist, wie kräftig die Farben sind, welche Mischung sie hat, wo das Epizentrum liegt, wo eine einzelne Farbwolke im Verhältnis zu den anderen ist, verändert sich biografisch und situativ. Davon abhängig gibt es auch Anziehung, Abstoßung und generell Spannungen zwischen den einzelnen Farbwolken, die unabhängig von der inneren Dynamik jeder einzelnen diese von Außen als Teil eines aufeinander bezogenen Systems beeinflussen.

Ich fände es toll, davon eine Visualisierung machen zu können. Wenn ich jeden Tag mein persönliches, aktuelles Wolkenfeldspektrum bestimmen und betrachten könnte. Wie sich die Farbverläufe, -intensitäten, – mischungen, Größen, Positionen, Überschneidungen, generell Beziehungen der Wolken im Laufe der Zeit verändern. 

Ich glaube, das ist, was Leben so anstrengend macht. Ständig eine Balance herzustellen, zwischen den ganzen inneren und äußeren Anforderungen und Bedürfnissen, ein stimmiges Gleichgewicht der Farbwolken zu finden, ein harmonisches Bild – ohne dass es ständig regnet, blitzt und alles zur Unkenntlichkeit verläuft.