Diesen Text habe ich am 25.11.2023 geschrieben.
Jetzt habe ich das, was alles erklärt, nicht im Internet gefunden (hashtag modediagnose), sondern in einem fast 20 Jahre alten Buch, das inzwischen in der 12. Druckauflage erschienen ist – mit lila Umschlag! – und ich aus der lokalen Bücherei ausgeliehen habe.
Es ist wirklich eine wilde Reise in die Vergangenheit – nicht alles in den frühen 2000ern war cool – weder psychologische Theoriebildung und Behandlung – schon gar nicht meine Jugend.
Alles, was Andrea Brockmann (AB) zu hochbegabten Menschen, ihrer Wahrnehmung, ihrem inneren Erleben, ihren sozialen Schwierigkeiten schreibt – seien es Kinder, Teenager oder Erwachsene -, hat mich sehr bewegt (all the feels), weil es genau meinen Erfahrungen entspricht. Ich wollte alle exemplarisch beschriebenen Personen umarmen und sofort Zeit mit ihnen verbringen.
Es ist nicht so, dass ich das nicht wusste. Wenige Jahre bevor dieses Buch entstanden ist, wurde ich getestet und diagnostiziert. Aber ich habe über das „Du könntest Einstein werden“ (cringe) hinaus nie verstanden, was das für meine Interaktion mit der Umwelt bedeutet.
Es ist auch nicht so, dass ich keine entsprechende Förderung bekommen hätte – im Gegenteil. Ich habe alles gemacht, alles wurde mir ermöglicht. Aber ich wusste nicht, dass es sich um eine generelle „neuronale Übererregbarkeit, welche sich in Überaktivität des Denkens, emotionaler Hypersensibilität und Überempfindlichkeit der sinnlichen Wahrnehmung“ handelt.
Die potenziellen Überschneidungen mit Autismus (und anderen Formen der Neurodivergenz) sind gleich ersichtlich – und warum mich das so intensiv interessiert und beschäftigt hat – und nicht vollständig (oder ausschließlich) passte.
AB thematisiert die Parallelen explizit (auch zu „Borderline“) und es ist sehr erschreckend, wie verheerend der Forschungsstand vor 20 Jahren (zu beiden Themen) und wie abwertend und menschenverachtend die Perspektive, Sprache und Behandlung in Bezug auf Betroffene war (und ist). („Rainman“ und „A beautiful mind“ kommen natürlich genauso sicher vor, wie Asperger zustimmend zitiert wird. Und was war das bitte für eine crazy Obsession mit „gespaltenen Persönlichkeiten“ damals?!)
Die frustrierende Erfahrung in der Klinik (und davor in meinen Psychotherapien) und ein Gespräch mit meiner Mutter zu meiner Kindheit haben dazu geführt, dass ich nach diesem Buch gesucht habe. Vielleicht tauchen die Testergebnisse sogar noch in dem Wust an Unterlagen bei meinem Vater auf.
Es hilft mir wirklich, einfach nur zu wissen, dass das eine sinnvolle Erklärung ist – dass ich nicht „unfähig“ oder „gestört“ bin – sondern aus guten Gründen „ausschweifend“ und „fordernd“, wie es so schön (Ironie) im Abschlussbericht heißt.
Menschen fühlen sich von mir „überfordert“ (und damit manchmal auch „bedroht“) – auch Therapeut*innen – story of my life. Gaslighting, Selbstzweifel.
AB plädiert dafür, Hochbegabte ernst zu nehmen, ihnen aufrichtig und authentisch zu begegnen, auf ihre Eigenarten einzugehen und so eine vertrauensvolle, gleichwertige Beziehung aufzubauen – basic human dignity.
Ich bin echt gespannt, wo mich das noch hinführt.
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„Jenseits der Norm – hochbegabt und hoch sensibel?“ von Andrea Brackmann, Klett-Cotta, 2013 (8. Auflage).