[Inhaltswarnung: Diese Rezension enthält viele inhaltliche Details des Romans „Unter uns die Nacht“ von Becky Chambers.]
Liebe auf die zweite Lektüre
Bevor ich den Roman überhaupt zur Hand genommen habe, hatte ich schon von mehreren Personen gehört, dass Teil 3 und 4 irgendwie „nicht so gut“ oder zumindest „anders“ sein sollten als Band 1 und 2 des Wayfarer-Zyklus. Vielleicht war ich deshalb schon negativ voreingenommen, als ich meinen ersten Leseversuch begann – und auch unterwältigt war. Irgendwie wurde ich nicht so richtig warm (rw) mit den Figuren und dem eher – so schien es mir – öde dahin plätschernden (rw) Plot.
Nach einer längeren Pause, in der ich nur Sachbücher oder Romane zu „Problemthemen“ gelesen hatte, riet mir meine (weise) Partnerperson, doch zur Abwechslung mal „etwas Schönes“ zu lesen. Und nachdem ich die Novelle „A psalm for the wild-built“ von Becky Chambers absolut begeistert gelesen hatte, wollte ich es mit Wayfarer Teil 3 und 4 noch einmal versuchen. Und tatsächlich: Jetzt konnte ich mich gut auf die eher langsam erzählten Geschichten und verschiedenen Stimmen der Figuren rund um die Raumflotte „Asteria“ einlassen und bin nach Abschluss der Lektüre – wieder einmal – sehr begeistert davon, wie Becky Chambers es auch hier wieder schafft, ein vielschichtiges, durch und durch von Herzlichkeit und gegenseitigem Verständnis geprägtes Bild anderer möglicher Welten und Lebensweisen, Kulturen und Sprachen, Perspektiven und Möglichkeiten zu zeichnen (rw).
Fokus – Menschliche Genealogie und Ethnografie
Der Fokus von „Unter uns die Nacht“ liegt auf der menschlichen Spezies, ihren verschiedenen Lebensformen und deren historischer und aktueller Entwicklung im Spannungsfeld zwischen Tradition / Herkunft / Stagnation / Langeweile und Aufbruch / Fortschritt / Zukunft / Neugier. Dass gerade in Band 1 und 2 nicht Menschen im Zentrum des Wayfarer-Universums standen, sondern andere Spezies wie Aandrisks und Äluoner*innen, hat mich besonders fasziniert – und daher wahrscheinlich anfänglich daran gehindert, Teil 3 eine Chance zu geben (rw). Mittlerweile finde ich es als Ergänzung und Hintergrundgeschichte absolut relevant und spannend.
Die harmagianische Ethnografin Ghu’loloan reist zur exodanischen Flotte – ein Verbund von Raumschiffen auf einer immer gleichen Umlaufbahn, mit der die letzten Menschen von der zerstörten Erde geflüchtet sind, und die dort seit Generationen in einer auf Kommunitarismus und Recycling basierenden Solidargemeinschaft leben -, um die dortige, einzigartige Lebensweise zu studieren und akademisch darüber zu schreiben. Jeder Romanteil beginnt mit einem ihrer aus dem Hanto ins Kliptorigan übersetzten Berichte, die gleichzeitig ihre tiefe Wertschätzung und Neugier sowie ihr interspeziäres Befremden und Staunen ausdrücken – wie zum Beispiel über den menschlichen Geburtsvorgang, die ressourcen-intensive Kinderaufzucht und den furchtsamen Umgang mit Tod. Zu Gast ist sie bei der Archivarin Isabel Itoh, die sie herumführt und in ihrem Forschungsinteresse begleitet, und ihrer Frau Tamsin, die eine Schwäche für gutes Essen und starke Vorbehalte gegenüber den einst kolonialistisch-gewaltätig agierenden Harmagianer*innen hat, von denen sie letztere durch den interspeziären und interkulturelle Austausch abbauen kann.
Ambivalenz – Gehen oder Bleiben
Spannend sind auch die Generationenkonflikte – zwischen Alt und Jung – und die diametralen Perspektiven von Exodanerinnern und Planetarierinnen – von Innen und Außen. Als exodanische Enklave ist die Flotte zum einen ein retro-utopischer Anziehungspunkt für planetarische Aussteiger*innen, die „mal was Neues probieren“ wollen und sich von der „menschlichen Ursprünglichkeit“ der „Asteria“ angezogen fühlen – wie der junge Sawyer von Mushtullo – und zum anderen eine konservierte, veraltete und um sich selbst kreisende Raumschiff gewordene Langeweile ohne Zukunft – wie für den Jugendlichen Kip, der sich nichts sehnlicher wünscht, als der generischen Peinlichkeit und erdrückenden Empathie seiner Eltern und der selbsterhaltenden Gefängnishaftigkeit und Sinnlosigkeit der Flotte zu entkommen. Auch Tessa, Frachthafenarbeiterin, Tochter von Pop, Mutter von Aya und Ky und Schwester von Ashby Santoso, dem Kapitän der Wayfarer, quält sich über den Roman hinweg immer wieder mit Fluchtgedanken, für die sie sich der Tradition wegen schämt, – bis sie sie am Ende doch des Versuchs willen in die Tat umsetzt, um auf dem Planeten Seid als Farmerin eine andere, neue Perspektive auf das Leben zu finden, ebenso wie Kip, der ein Studium an einer planetarischen Universität aufnimmt, bevor er bei Isabel Itoh in die Leere geht, um die Tradition seiner Vorfahr*innen fortzuführen.
Von Eyas, einer seit Kindertagen überzeugten Hüterin, lernen wir viel über die exodanischen Bestattungsriten, die das Kompostieren der Bewohnenden beinhaltet, die dann als Erde wieder in den Indoor-Farmen, Gewächshäusern und Gärten zum Fortbestand der Flotte beitragen. Aber auch in Eyas ist die Ambivalenz stark – sie sehnt sich nach einem unbestimmten Mehr, was sie erst körperlich-freundschaftlich und später beruflich-kooperativ im Sexarbeiter Sunny findet, mit dem sie beginnt Workshops für Interessierte an der exodanischen Lebensweise anzubieten. Zuvor gab es nur Vorbereitungskurse für Emmigrant*innen, die die Flotte verlassen wollten.
Sprache, Lektorat, Cover
Becky Chambers fängt in den sich auf eine Figurenperspektive konzentrierenden, abwechselnden Kapiteln das jeweilige Lebensgefühl der Protagonist*innen und deren Gedankenwelt vielstimmig und präzise ein (rw). Die jugendlich-aufgekratzte (rw) gutmütige Planlosigkeit von Kip, die abenteuerlustig-sympathische (verhängnisvolle) Naivität von Sawyer, die gesetzte (rw) ausgewogene Seniorität von Isabel, die zwischen Autorität und Laisser-faire, Sorge, Stolz und Überforderung oszillierende Mutterschaft von Tess, die hingebungsvoll-überdrüssige Ruhe(losigkeit) von Eyas.
Das Lektorat lässt zum Ende des Buches hin etwas nach. Ein „sie“ ist fälschlicherweise groß geschrieben. Plötzlich fehlt ein Verb oder ein anderes Wort im Satz. Alle Cover sind dem Inhalt der Romane in keinster Weise würdig. Leider ist das vermutlich eine traurige Konsequenz des Mangels an angemessener Entlohnung für diese „nebensächlichen“ Tätigkeiten.
Ich wünschte es gäbe großartig illustrierte Ausgaben der Wayfarer-Bücher, die das Universum, das Becky Chambers erschaffen hat, in seiner liebenswürdigen Diversität angemessen abbilden und feiern.