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Elternschaft Literatur TRANS

Detransition, Baby

Dieses Buch hat mich so begeistert und umgehauen (rw).

Mir war nicht klar, welchen fundamentalen Unterschied es macht, wenn ein Buch von trans (femininen) Personen für trans (feminine) Personen geschrieben wird und sich nicht primär an ein cis Publikum richtet. Gedanken, Ansichten und Wahrheiten, die sonst vielleicht nur im Vertrauen zwischen trans* Personen ausgetauscht werden, können in ihrer ganzen Schmerzhaftigkeit, Aufrichtigkeit und Ambivalenz geäußert und diskutiert werden – in einem „sicheren“ fiktionalen Rahmen, der (fast) alles darf. Ich fand es wirklich überwältigend (gut) und mir war nicht klar, wie sehr mir diese Form der Repräsentation gefehlt hat.

Herausragend finde ich die Darstellung von und den Umgang mit Ames’/Amys (De)Transition. Reeses gnadenlosen Blick darauf und Ames’/Amys eigene Beschreibungen seines/ihres Erlebens von Sexualität, Begehren und Körperempfinden. Die Poppers-Szene, den Anzug und den treuen Hund werde ich nie vergessen. Ich finde es meisterhaft, wie stimmig Namen und Pronomen wechseln.

Reese ist einfach die coolste Person. Ihre „Mom-Schwärmerei“, ihre Kompromisslosigkeit und Klarheit in Bezug auf sich selbst und andere. Ihre kritische Analyse von Katrinas plötzlich entdeckter Pseudo-Queerness als willkommene Medikation für ihre Midlife Crisis als geschiedene cis-hetero Frau und der scheinbar utopischen Fiktion queerer Elternschaft.

Ich bin so gespannt auf „Nevada“ von Imogen Binnie, das der Ursprung dieses Genres und Buches war.

Meine liebsten Zitate

„Im ersten Jahr der Transition ging es, wie Amy festgestellt hatte, darum zu verstehen, wie sehr man sich selbst belogen hat. Wie unzuverlässig die eigene Selbsteinschätzung ist und wie wenig man die Selbstwahrnehmung aus der Vergangenheit für die Transition nutzen kann. Das Schlimmste war, dabei zuzusehen, dass die eigenen „Bewältigungsstrategien“, wie es in der Therapie heißt, nicht mehr funktionieren. Plötzlich kommt der Moment, vom man sieht, wie viel Angst man gehabt hat und wie groß der Schmerz war, mit dem man als Junge gelebt hat, ehe dieser Schmerz und die Angst dann wirklich zuschlagen und einen zerreißen. So wie in den Filmen aus den Fünfzigerjahren, wo Männer die ersten Atombombentests beobachten, erst das Aufleuchten und den aufsteigenden Pilz sehen, dann für den Bruchteil einer Sekunde noch die shivahafte Zerstörung bestaunen, bevor die Schockwelle ihre glühenden Körper rückwärts in die Luft katapultiert, zusammen mit der Kamera, die sie aufnimmt, bis man nichts mehr sehen kann, nur noch spüren.
Und dann entwickelt man neue Bewältigungsstrategien, eine neue Sprache, neue Mauern, hinter denen man sicher ist.“

S. 167/168

„Nichts von dem Geld würde an trans Menschen gehen. Die GLAAD konzentrierte sich wie die meisten großen schwulen Organisationen auf Botschaften und Lobbyismus: Das Geld war nicht für trans Menschen gedacht, es war dafür da, eine sachgerechte Diskussion über Themen wie trans Menschen zu unterstützen.
Entsprechend war in den Zeremonien und Vorträgen mit großer Emphase davon die Rede, dass es trans Frauen erlaubt sein müsse, öffentliche Toiletten zu besuchen. Reese interessierten öffentliche Toiletten einen Scheiß. Der Supreme Court hatte gleichgeschlechtliche Ehen gerade erst gesetzlich anerkannt. Diese cis Homos, die sich Trips nach Afrika ersteigern – ihr großer Siegt war innenpolitisch. Sie hatten die Optionen für die amerikanische Kleinfamilie neu geordnet und sich selbst das Geschenk der Hetero-Institutionen gemacht: Ehe und Elternschaft. Reese wollte für sich dasselbe – nein, tatsächlich wollte sie mehr. Wer braucht öffentliche Toiletten? Wir sind schon in euren Schlafzimmern, vögeln eure Ehemänner und benutzen eure Bäder, vielen Dank.
Reese interessierte eher, wie man ihr einen Ehemann besorgen und wie sie selbst Mutter werden konnte, wenn man sie schon im eigenen Schlafzimmer nicht haben wollte. Sonst machte sie es eben auf ihre Weise. Und weil sie es auf ihre Weise machte, war sie schließlich hier.“

S. 230/231

„[…] Also ganz im Ernst: Zählt eine Detransition genauso viel wie eine Transition, gebührt ihr genauso viel Respekt?“
Das ist ein Thema, bei dem sich die drei trans Frauen herzlich uneinig sind. Iris findet „Ja, absolut“. Thalia sieht das auch so, fügt aber hinzu, dass sich alle etwas vormachen, auch cis Menschen, und die einzige Möglichkeit, alle zu zwingen, aktiv über ihr Geschlecht nachzudenken, besteht darin, jedem Geschlecht gleich wenig Respekt entgegenzubringen. Theoretisch ist Reese auch für diesen Gleichheitsgrundsatz, praktisch respektiert sie zwar viele Geschlechter, Ames’ aktuelles allerdings überhaupt nicht.
In ihrem Herzen ist Ames für sie kein Mann. Sie kann einfach nicht glauben, dass Ames’ Detransition das ist, was sie zu sein scheint. Wie oft hat sie schon vor Amys Detransition miterlebt, dass sie Männlichkeit als schützenden Kokon benutzt hat? Reese hat früh in ihrer Beziehung gelernt einzuschätzen, wie unsicher Amy in dieser oder jener Situation ist. Das sah sie daran, wie viele Spuren aus ihrer Zeit als College-Bro Amy zur Schau stelle. In solchen Momenten wirkte Ames irgendwie blasser, und Reese wusste, dass sie Teile ihrer betäubenden männlichen Rüstung angezogen hatte.
Die Männlichkeit hatte Amy immer erlaubt, nicht zu fühlen. Kurz nach ihrer Transition war Amy vor dieser Taubheit geflohen und mit Reese eine Zeit lang wunderbar präsent und fragil gewesen. Aber sie hatte die Taubheit nie vollständig abgelegt und erkannte diese Eigenschaft später durchaus als nützlich. Iris sprach – als Sexarbeiterin – ähnlich über Dissoziation: die Superkraft, die ihr Erfolg garantierte, lukrativ war und heroisch, wo der Durchschnittssterbliche versagte und seinen Gefühlen erlag. Reese glaubte jedoch nicht an diesen Dreh. Sie konnte den dogmatisch radikalen Sprung nicht ganz nachvollziehen, mit dem Dissoziation vom Bewältigungsmechanismus zur Superkraft wurde.
Ganz hinten in Amys Schrank – den sie sich mal geteilt hatten – hing ein traumhafter Anzug von Zegna, klassisch schmal geschnitten, tiefschwarz und aus matter kardierter Wolle. Amy hatte ihn in ihrem letzten Collegejahr in einem Second-Hand-Shop gekauft, ihn von der Stange gerissen, an sich den Reservoir Dog entdeckt. Beim posttransitionären Aussortieren der Jungsklamotten hatte Amy den Anzug verschont, und ihm ein verborgenes Leben im hintersten Teil des Schranks zugestanden. Reese hätte den Anzug nur zu gern als sentimentales Andenken verstanden, nur dass Amy ihn viel zu selten tatsächlich getragen hatte, wenn Reese nach Hause kam, die Malamute-Augen tausend Meter in die Ferne gerichtet, um wie ein zwielichtiger androgyner James Bond herumzuschleichen.
Reese hatte weder im Allgemeinen noch im Besonderen Geduld mit diesem nostalgischen Männeraufzug. Zugleich hatte sie widerwillig Respekt für die Anzug-Amy, und sei es nur, weil die komplett dichtmachte und dadurch unverletzbar wurde, wenn sie ihn trug. Am nächsten Tag sorgte Reese jedenfalls dafür, dass Amy deshalb kleinlaut und verlegen wurde, wie man es mit einer verkaterten Freundin macht, deren sorgloses Betrinken am Vorabend dir grollende Ehrfurcht abverlangt hat.
Mit der Detransition war Amy über die unerreichbare Distanz langsam erstarrt. Sie war jetzt an einem Ort, wo Reese sie nicht mehr berühren konnte, um sie erneut zu verletzen. Hier geht es nicht um Gender, würde Reeses Schuldgefühl argumentieren, hier geht es um Schmerz. Jeder Schmerz verdient Zuwendung, aber keinen dogmatischen egalitären Relativismus.“

S. 310ff.

„Diese Fantasie muntert Reese auf und hilft ihr, eine wispernde neue Angst zu vertreiben: dass Katrina in ihren spitzfindigen Enddreißigern die Fantasie hegt, Queersein könnte ihre Rettung sein. Dass Katrina in dem Wirbelsturm aus Scheidung, Schwangerschaft und überraschender Transgeschlechtlichkeit den Halt verloren hat und jetzt in den dunklen Gewässern gescheiterter Heterosexualität treibt und nach etwas tastet, woran sie sich festhalten kann, und sei es queere Elternschaft. Wie Katrina über gemeinsame Elternschaft sprach, hatte etwas Utopisches, so wie gerade geoutete Queers mit der größten Inbrunst von romantischer Liebe und Vorlieben sprechen, ohne zu ahnen, was für Dornen das queere Leben bereithält. In ihren paranoiden, grausamen Momenten machte sich Reese schon darauf gefasst, dass Katrina sie fallen lassen würde wie ein queeres Mädchen, das ihr Verlangen nach einem heterosexuellen College-Girl zu zügeln versucht, das ihre Küsse begeistert erwidert hat, nachdem ihr beschissener Freund sie gerade verlassen hat.“

S. 359/360

„In der Küche knackten Reeses Knie, als sie neben dem Regal in die Hocke ging, um das Buch zu finden. Hellgelbes Cover, illustriert mit einem Spitztüten-BH und einem Schnuller. Sie drehte es um und las den Text auf der Rückseite: Dieses Buch beschreibt, wie es ist, zugleich Mutter und Nicht-Mutter zu sein … die Gefühle von Neid und Verlust, die Frauen haben, wenn sie gern schwanger werden würden, aber es nicht können, während ihre Partnerinnen ganz selbstverständlich schwanger werden.
Das hatte Maya gelesen? Und Katrina auch?
Reese fühlte sich gesehen, wenn nicht entblößt.
Doch trotz ihrer Mom-Schwärmerei kam Reese das Etikett „lesbische Mutter“ unpassend vor. Sie war etwas entgeistert, dass ihr Weg zur queeren Elternschaft mit Ratschlägen von cis Lesben beginnen sollte, die ihre Mutterschaft verachteten, und es gelang ihr nicht, das höflich zu überspielen. Jedes Mal, wenn sie ihren Wunsch äußerte, Mutter zu werden, kamen ihr die Leute mit einer politischen Bewegung, die seit dreißig Jahren darauf pochte, dass sie nicht dazugehörte – warum? Abgesehen davon, dass sie offensichtlicher- und angemessenerweise nie mit Katrina geschlafen hatte und das auch weder plante noch wünschte. Sie waren kein lesbisches Paar. Sie waren ein Mutter-Paar. Mit Mom-Schwärmerei. Das war etwas anderes. Und es war wichtig, dass Maya das kapierte.“

S. 366

„Und plötzlich begreift Reese, was hier vor sich geht. Das Wort „heteronormativ“ sagt ihr, was hier gespielt wird. Sie dachte, sie würde hier geoutet. Aber nein, Katrina outet sich ihren Freundinnen gegenüber als queer. Deshalb ist sie so offensiv. So verhalten sich Queerbabys. Die konfrontative Beteuerung als Grenzziehung: So bin ich nun mal, hast du ein Problem damit? Vorgetragen mit dem Fanatismus der Neukonvertierten, deren Engagement noch nicht von Müdigkeit und Kompromissbereitschaft zurechtgestutzt ist, die glaubt, dass die neue Religion die Antworten hat, die ihr in ihrer alten Religion gefehlt haben. Noch auffälliger für Reese: Katrinas Aufregung ist herausfordernd! Sie denkt, queer zu sein, macht sie interessant!“

S. 394

„Dass Ames vorgeschlagen hat, sie könnten eine queere Familie sein. Dass queere Familien so viele Möglichkeiten haben, bei denen sie, als sie verheiratet war, gar nicht gewusst hat, dass sie sie gern gehabt hätte, bei denen sie aber gespürt hat, dass sie ihr in ihrer Ehe mit Danny fehlten. Dass sie immer schon queere Neigungen hatte, wobei sie, weil es eben nicht klipp und klar ums Lesbischen ging, nie wusste, wie sie es nennen sollte.
Ach, so ist das also gekommen?, dachte Reese. Jetzt spinnt sie sich aber was zusammen. Allerdings schien Katrina nicht nur zu spinnen, sie schien es sogar zu glauben. Sie erfand ein neues Narrativ für ihre Scheidung. Diese ungreifbaren Gründe, dieses diffuse Unglück, weshalb sie sich von Danny scheiden lassen musste? Jetzt lag es also daran, dass ihr die Möglichkeit einer queeren Beziehung fehlte, sie es aber nicht so nennen konnte. […]
„[…] Alle sagen, jeder kann aus seiner Ehe machen, was er will, aber manchmal ist, die Institution einfach übermächtig. Wie befreiend, wenn man sich seine eigenen Regeln machen kann.“
Das war für Reese das Heteronormativste, Verheiratetet, was jemals irgendjemand gesagt hat.
Aber Katrina erwidert: „Genau!“
Da lenken die anderen Frauen ein. Plötzlich versteht Reese, warum Katrina so gut in ihrem Job ist. In der Zeit, in der ein paar kleine Desserts verspeist werden, hatte Katrina diese Frauen annähernd davon überzeugt, wie sinnvoll es sein kann, ein Kind mit trans Menschen großzuziehen.
Die Königin der chemischen Reinigung ist die letzte Bastion der Verweigerung. Während alle anderen schon zögernd ihre Befürwortung signalisieren, legt sie die Stirn in Falten, als würde ihr der Gedanke Schmerzen bereiten. Dann sagt sie: »Ich weiß nicht. Irgendwie will doch heutzutage jeder und jede irgendwas Queeres. Als wäre das eine Modeerschei-nung. Und am Ende sind einfach ganz viele von uns verletzt.«“

S. 396/397

„Vor dieser ganzen Genderscheiße war ihr Körper wie ein guter Hund. Vielleicht war er nicht nur das, aber ihr Hund tat alles, was sie wollte: Sie bewegte sich rasend schnell, zog sich an Bäumen hoch, sprintete durch Wälder und über Felder, ausgelassen und mit wedelndem Schwanz. Sie hatte Glück, so einen Hund bekommen zu haben. Sie hatte so einen guten Hund nicht verdient. Sie hatte gedacht, sie würde diesen Hund immer haben – wenn sie beide alt waren, würde er ihr zu Füßen liegen wie ein Seesack, treu und gehorsam und lieb bis zum Schluss.“

S. 425

„Durch die Transition verlor Amy ihren Hund. Damit gab es nur noch sie. Sie und ihr Körper waren identisch. Jedes Gefühl gehörte jetzt einfach und ohne Mittler zu ihr. Das sollte eigentlich etwas Gutes sein. Und manchmal war es das auch. Sie musste nicht mehr aus dem Verhalten ihres Hundes schließen, was los war. Aber ohne einen Hund, dem für sie und an ihrer Stelle etwas wehtat, war ihr Leben als Frau ein Leben mit Schmerzen. Schmerzen, die ertragen, die ausgehalten werden mussten, Schmerzen, die bedeuteten, am Leben zu sein, und die folglich niemals aufhörten.
Als Jon schlägt, versucht Ames, auf seinen Körper zu hö-ren. Er hat schon lange nicht mehr an seinen Hund gedacht.
Hat er noch einen Hund? Er hatte geglaubt, seinen Hund mit der Detransition zurückzubekommen, aber so war es nicht.
Er hat schlicht das Lebendige von beidem verloren, von Schmerz und Freude. Die Welt ist in erträgliche Ferne ge-rückt, die Farben ungesättigt, aber der Hund blieb tot. Irgendwie feige, wie Ames es vermieden hat, darüber nachzu-denken, weil er hoffte, es würde schon reichen. Aber natürlich hatte er die letzten drei Jahre seines Lebens so verbracht, dass ihm wenig abverlangt wurde – ein ambitionsloser Bürojob, eine Beziehung, die ihm passiert ist, ohne dass er danach gesucht hat, sosehr er Katrina auch liebt, Freunde, die ihn gut, aber nicht zu gut kennen. Nur muss er jetzt, mit diesem Baby, diesem Werk seines verräterischen animalischen Körpers, wissen, was seine wahren Gefühle sind. Als Jon außer Puste ist, übernimmt Ames noch mal. Der Schläger schwingt und schwingt und schwingt, jeder einzelne Schlag ein Gebet, das die Toten anfleht zu sprechen.“

S. 426/427

„Aber selbst mit Katrina ist er nicht richtig anwesend, sind seine Sinne nicht ganz da. Nicht auf die schwere, gesättigte Weise, die er aus seinen Jahren als Frau kennt, und er kann nicht umhin, sich zu fragen, ob er Katrina belügt. Vielleicht hat sie etwas Besseres verdient. Mehr als nur das kompetente Faksimile eines Mannes, der mit sich im Reinen ist, sondern das Original: einen Mann, bei dem Körper und Geist im Einklang sind, wenn er sie begehrt. Selbst wenn er ihr Angebot annähme, ein Kind mit ihr großzuziehen – vielleicht verdient das Kind ja auch etwas Besseres. Ein Elternteil, dessen Anwesenheit nicht infrage gestellt werden kann, weil sie einfach echt ist. Vielleicht würde Katrina es irgendwann merken, vielleicht auch nicht, aber ein Kind würde es ganz sicher spüren. Kinder beobachten ihre Eltern, ergründen sie, stellen Theorien über ihr Verhalten auf, die sie in die eine und in die andere Richtung drehen, untersuchen jeden Fehler, und zwar selbst dann noch, wenn die Eltern schon lange nicht mehr da sind. In Geschichten, in der Therapiepraxis, im Urlaub – das Beobachten der eigenen Eltern hört nie auf. Ames‘ Kind wird ihn kennen. Das ist unvermeidlich. Und endlich ist da eine Antwort: Er möchte nicht, dass sein Kind ihn so kennt, wie er ist.“

S. 428

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Elternschaft

Kinderwünsche

Wenn aus der Sicht von Kind 2 etwas komplett schief gelaufen ist (und Kind 2 schreit und tobt und schlägt und stampft), wünscht es sich oft, dass ich die Zeit zurückdrehen soll. Um noch einmal neu zu beginnen ab da, wo die falsche Entscheidung getroffen, die falsche Handlung ausgeführt wurde.

Und ich fühle es. Ich wünschte, ich hätte die Muffins nicht schon ohne Kind 2 am Nachmittag gebacken, obwohl mir insgeheim klar war, dass es sehr sehr wütend und enttäuscht sein würde, weil es das gerne mit mir zusammen machen wollte. Verständlicherweise.

Ich wünschte, ich könnte Kind 1 anders abgestillt haben als mit Fertigwaffeln vom Discounter. Ich wünschte, wir hätten von Beginn an mehr Rituale für Körperpflege eingeführt. Ich wünschte, ich hätte meine körperlichen und psychischen Grenzen in der Kernfamilie besser wahren können, um nicht in diese Überforderung zu geraten, die u.a. zu diesen Dingen oder ihrem Ausbleiben geführt hat. Ich wünschte, wir hätten es als Elternpaar besser geschafft, uns Freiräume zu geben, um mehr Kraft für das Durchsetzen eigener Bedürfnisse übrig zu haben.

Es ist nie zu spät, Dinge zu verändern, die schlecht laufen oder bei denen ich mich unwohl fühle. Es ist noch nicht unmöglich, ein weiteres Kind zu bekommen – in einer Konstellation, die ich für mich als adäquater einschätze, und ein #lebenmitkindern zu leben, das ich mir wünschen würde.

Als ich unbedingt (!) Kinder wollte, wusste ich nicht, was das bedeutet oder welche Alternativen Familienformen es gegeben hätte, die vielleicht besser zu mir passen. Primär wollte ich Kinder, um mir und anderen etwas zu beweisen. Dass ich nach den Jahren der Essstörung überhaupt Kinder bekommen kann. Und ich wollte jung Elter werden, um meinen ideologischen Standpunkt zu demonstrieren, dass das das „richtige“, das „gute“ Alter ist. Nicht wenn mensch fertig ist mit allem als Krönung und Fortsetzung der eigenen Existenz, sondern im unfertigen Werden.

Jetzt würde ich noch einmal ein Kind bekommen, um als trans maskuline Person ein Exempel zu statuieren. Um es zu machen, weil es geht und um zu wissen, wie es ist. Wie die Leute reagieren – ja, es geht wieder um einen radikalen, demonstrativen Akt. Dazu kommt, dass ich Schwangerschaften und Geburten als sehr empowernd erlebt habe, und die alten Motive immer noch wirksam sind. Ich weiß, mein Körper kann das und das auch noch sehr gut. Es war und wäre eine weitere körperliche Grenzerfahrung, die mich fasziniert.

Ich weiß, dass das alles höchst unmoralisch ist. Vielleicht ist es komisch oder lächerlich – verwerflich, überhaupt so etwas zu denken und dann auch noch zu wollen. Aber es ist so. Und irgendwie habe ich meinen Frieden mit diesen Motiven und dem Wissen darum gemacht. Nicht alles, was gedacht und gewollt wird, muss gemacht werden. Und dennoch.

Zuletzt kam in queeren Kontexten mit Kindern der Wunsch, die Idee plötzlich wieder auf. Weil sich meine Carearbeit in diesen Settings stark reduziert hat, weil meine Kinder dort selbst beschäftigt und selbstständig sind. Weil es da süße Babys gibt und coole andere Eltern und sogar Paare, die irgendwie gut zusammen und mit ihren Kindern klarzukommen scheinen. Und dann denke ich, ich würde gerne ein Kind mit solchen Leuten bekommen oder vielleicht besser noch für sie.

[Kleiner Exkurs: Dabei ist mir aufgefallen, wie befremdlich (und eklig) ich die Vorstellung finde, „fremdes“ Sperma in meinem Körper zu haben – also von einer Person, mit der ich nicht in einer romantischen und/oder sexuellen Beziehung bin. Darüber hatte ich bisher noch gar nicht nachgedacht. Ob ich demisexuell bin, habe ich mich auch schon häufiger gefragt – nur ein loser Zusammenhang. Ich hatte und habe in meinem Leben einfach sehr wenige körperliche Beziehungen zu Menschen – auch jenseits von Sex – und ausgenommen der zu den Kindern, die ja lange Zeit quasi konstant auf 1 leben.]

Für mich ist vollkommen klar, dass ich auf keinen Fall noch einmal die komplette Carearbeit und Verantwortung für ein Kind (alleine) übernehmen will. Ich wäre gerne der Freizeitdaddy oder fun uncle, wo ich dosierter und selbstbesftimmter Zeit mit Kindern verbringen und gleichzeitig (überforderte, müde und gestresste) Eltern entlasten könnte – regelmäßig, zuverlässig und auch bei Krankheit und im Alltäglichen -, weil ich weiß, wie hilfreich das sein kann und wie oft Eltern am Limit sind.

Anders gesagt: Ich wünschte, ich hätte keine oder anders Kinder bekommen oder in meinem Leben, als ich es jetzt habe. #regrettingparenthood beschäftigt mich immer wieder. Oft habe ich keinen Spaß mit meinen Kindern. Ich finde die meisten Dinge extrem anstrengend, nervig oder langweilig, die den Alltag ausmachen. Es gibt Momente, die ich wirklich schön finde – es sind wenige. Und meistens gehen sie in den anderen 85%-nicht-schön unter.

Hätte ich Co-Elternschaft damals gekannt, vielleicht hätte ich es versucht. Andererseits hätte ich mich wahrscheinlich zu dem Zeitpunkt sozial gar nicht in der Lage gefühlt, so etwas mit anderen anzugehen. Und natürlich kann ich Entscheidungen in der Vergangenheit nicht mit dem Wissen und der Erfahrung von heute beurteilen.

Jetzt kenne ich niemanden, mit dem ich das oben beschriebene Experiment durchführen könnte. Was vielleicht auch gut ist, weil es ethisch fragwürdig wäre, ein Kind aus den genannten Gründen zu bekommen. Die Frage ist, welche „guten Gründe“ andere Menschen haben. In cis-hetero Kontexten scheint es mir oft so, als ob es gar keine tiefergehenden Gründe braucht, weil „macht man halt so“ oder „passiert halt“.

Teilzeit-Ein-Elter-Sein ist auch einfach strukturell schlecht. Es ist besser als vorher, weil es mir mehr Autonomie und Gestaltungsmöglichkeiten einräumt. Darüber hinaus wünsche ich mir so sehr, in ein Netz aus anderen Eltern und Menschen eingebettet zu sein, wo zusammen gekocht, gespielt und geredet wird. In meinem Alltag fehlen mir einfach erwachsene Menschen, mit denen ich mich austauschen, abwechseln, auskotzen und abgleichen kann. Die andere Räume eröffnen und Impulse geben – mir und den Kindern. Menschen brauchen andere Menschen – weniger Materielles und Mediales.

Alle bleiben in ihren Kleinfamilien, ab und zu tauscht man mal Kinder oder trifft sich auf dem Spielplatz. Andererseits weiß ich nicht mal, ob ich überhaupt für etwas Kollektivistischeres geeignet wäre. Wahrscheinlich nicht. Viel macht wahrscheinlich auch die Wohnsituation aus. Wie groß ist die Wohnung (gibt es Rückzugsräume), gibt es einen Garten oder die Möglichkeit, „einfach“ draußen zu spielen, wohnen andere Kinder in der Nähe, sind die Erwachsenen kompatibel.

Ohne die Erfahrung der Elternschaft wäre ich nicht die Person, die ich jetzt bin. Wahrscheinlich hätte ich mich aus mir selbst heraus nicht so gepusht, was die Reflexion meines Verhaltens angeht – vielleicht aber schon in anderen Kontexten. Ich würde gerne noch so viel Neues, Anderes ausprobieren, wozu mit Kindern einfach die Zeit und der Raum fehlt. Ich hasse es, meine Interessen zurückstellen zu müssen.

Warum manches, was für andere vielleicht Standard ist, bei mir hinten runtergefallen ist und weiter fällt, ist, dass ich bestimmte Dinge, die für mich essentiell / existenziell sind, einfach knallhart durchziehe – no matter what. Studium / Beruf, Sport / Bewegung, Safe / Same Food sind Lebensbereiche, bei denen ich kaum bis keine Kompromisse mache(n kann).

Manchmal frage ich mich, ob ich meine Prioritäten falsch setze oder Ressourcen schlecht verteile. Eine für alle möglichst passende Bedürfnisbalance herzustellen, ist aber auch einfach eine krasse, kaum stabil zu schaffende Aufgabe. Und mehr kann ich anscheinend nicht geben. Ich kann mich anstrengen, reflektieren und verändern, womit ich seit Jahren täglich beschäftigt bin – individuelle und gesellschaftliche Rahmen- und Randbedingungen kann ich kaum beeinflussen.

Da ich – wie ich Kind 2 regelmäßig zu dessen weiterer Frustration erklären und gestehen muss – die Zeit nicht zurück drehen kann, wünsche ich mir, dass ich noch mehr Frieden mit mir und meinem Eltersein schließen kann und die Kraft und Ressourcen finde, um die Dinge zu verändern, die zu einem für mich passenderen und angenehmeren Leben mit Kindern führen.

Aber vielleicht bleibt auch das einfach ein kindlicher Wunsch.