Es ist sicher mehr als 10 Jahre her, dass ich – in einem Zustand der Kinder- und Arglosigkeit – die ersten drei Bände „Rico, Oskar und die Tieferschatten / das Herzgebreche / der Diebstahlstein“ von Andreas Steinhöfel gelesen habe.
Dann hörte ich kürzlich ein Interview mit dem Autor in einem Psycho-Podcast*, lernte, dass Andreas Steinhöfel schwul und die Bingotrommel-Metapher eine sehr direkte Anspielung auf eine ADHS-Symptomatik ist. Und dass ich den Autor ziemlich unsympathisch finde.
Dennoch, potenzielle Queerness und Neurodivergenz in Kinder- und Jugendbüchern – unmissverständlich ein Aufruf zum Re-Read!
Schlecht gealtert und verstörend
Leider musste ich beim Vorlesen feststellen, dass die Bücher in meiner Perspektive wirklich schlecht gealtert sind. Vielleicht gilt das für viele „Kulturprodukte“ aus den 2000ern, wo die Awareness bzgl. Sexismus, Rassismus, Ableismus etc. absolut unterirdisch bzw. nicht existent war.
Mein Eindruck ist, dass es sich nicht einmal um Kinderbücher handelt. Die Sprache, die der Autor für die Figur Rico wählt und vermeintlich eine neurodivergente Perspektive vermitteln soll, war für meine Kinder über große Strecken un- und missverständlich. Das „Witzige“ an Ricos Darstellungen habe wenn ich verstanden und fand es oft eher bitter, zynisch und deprimierend. Für mich haben die Texte viel Pessimismus und Negativität transportiert, Geschlechterklischees und ableistische Stereotype reproduziert. „Schwul“ taucht als Schimpfwort auf, ständig geht es um „große Brüste“. Why?
„Das graue Gefühl“ aka Depressionen und die Ambivalenz der Verlässlichkeit und Befähigung von erwachsenen Bezugspersonen zu thematisieren, ist sicherlich löblich, aber auch mich lassen die Geschichten eher verstört als empowert zurück.
Könnte Autor*in das nicht noch mal „in schön und gut“ erzählen?
Neurodivergenz neu erzählt
Und tatsächlich scheint Rebecca Elbs das mit ihrer Reihe „Leo & Lucy“ gemacht zu haben. Es gibt zahlreiche Parallelen zum „Rico und Oskar“-Setting. Ein LRS/ADHS-Kind, ein eher hochbegabten Kind (im Rollstuhl), prekäre soziale Verhältnisse, eine alleinerziehende Mutter mit eigenen Problemen und Geheimnissen, einen mysteriös abwesenden Vater, eine umsorgende, etwas kuriose Hausgemeinschaft.
Auch hier gibt es fehlbare Erwachsene, Freund*innenschaftsdrama, Schulschwierigkeiten – kein Friede-Freude-Eierkuchen (bzw. Oladi) – aber der Grundton ist nicht so düster, die Perspektive ist empathisch (und nicht sadistisch) und danke, danke, danke die Klischeekiste bleibt weitestgehend geschlossen. Lovestories sind auch hier weitestgehend heteronormativ – mensch kann nicht alles haben.
Falls ihr also eine gesellschaftsfähige Alternative für „Rico und Oskar“ braucht, kann ich euch „Leo & Lucy“ empfehlen.
Add on: Wer sich für LRS (Lese-Rechtschreib-Störung) in einem Jugendbuch interessiert, dem*der kann ich „Die beste Bahn meines Lebens“ empfehlen. Fand ich sozial schon etwas hardcore und klar wieder hetero Kitsch – zum Glück bin einfach kein Teenie mehr.
* Generelle Empfehlung für den Podcast „Verrückt“ von Jakob Hein. Content note: Die letzte, aktuellste Folge ist mit einem Rammstein-Bandmitglied (und sehr langweilig, nicht zu Ende gehört). Mein Beitrag zu Literatur und Podcasts zum Themenkomplex „Psychose / Schiziphrenie“ folgt : ).