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Wayfarer II

[Inhaltswarnung: Diese Rezension enthält viele inhaltliche Details des Romans „Zwischen zwei Sternen“ von Becky Chambers.]

Ein bisschen traurig erschien es mir anfangs schon, dass der zweite Band des Wayfarer-Zyklus die Geschichte um die Crew um Captain Santoso nicht direkt fortsetzt, sondern so gut wie das gesamte Figurenensemble wechselt.

Nachdem die KI Lovey den Angriff des Toremi-Schiffes am Ende von Teil I nicht überlebt, d.h. ein kompletter Softwarereset durchgeführt werden musste, bei dem die Ursprungsinstallation Lovelace ohne jegliche Erinnerungen und soziale Bindungen wiederhergestellt wird, findet auch eine Art Reset bzw. Neuausrichtung im Wayfarer-Universum statt.

Pepper, eine Freundin der Wayfarer-Mechtech Kizzy, überredet Lovelace innerhalb weniger Minuten nach ihrem Booten aus dem Kern und den Kommunikationsbahnen des Raumschiffs in das Bodykit zu wechseln, das Jenks illegal für Lovey besorgt hatte, und mit ihr zu kommen, um der Crew, aber vor allem Jenks weiteres Leid durch ihre Anwesenheit als minderwertige Kopie von Lovey und ständige Erinnerung an diese zu ersparen. Da auch Lovelace wie ihre vorherige adaptiere Installation eine empfindungsfähige KI ist, geht sie – wenn auch nicht vollständig überzeugt und sich im Klaren über die Konsequenzen einer anderen physischen Existenz – darauf ein.

In alternierenden Kapiteln wechselt der Roman zwischen Sidras – so nennt sich Lovelace spontan auf Peppers Anraten hin, um eine menschlich-exodanische Identität glaubhaft zu machen – Versuch, sich in der Welt verkörperter Wesen zurecht zu finden, und der Backstory von Pepper, die als Jane 23 als ein von den „Verbesserten“ gezüchtetes und versklavtes Mädchen unter vielen auf der Schattenseite eines Planeten in einer von Maschinenmüttern kontrollierten Schrottsortierfabrik aufgewachsen ist.
In „Zwischen zwei Sternen“ lernen wir also auch die dunkleren Seiten des Universums kennen, die in Teil I fast vollständig verborgen geblieben sind.

Auch wenn in diesem Band nicht mehr alle Beziehungen und Intentionen von Herzlichkeit und Aufrichtigkeit geprägt sind wie in Teil I konnte ich mich mit der eher düsteren Vergangenheit von Pepper und Blue, ihrem Lebensgefährten, der ebenfalls von ihrem Heimatplaneten stammt und dort aufgrund seiner Behinderung(en) ebenfalls ausgenutzt und ausgegrenzt wurde, und den Struggles von Sidra, Orientierung und (Selbst)Bestimmung in einer ihr fremden Existenz- und Wahrnehmungsform zu erlangen, stark identifizieren.
Zum einen verstehe ich die Anziehung von klaren, eng gefassten Strukturen und verlässlichen Abläufen, die Orientierung und Sicherheit bieten – auch wenn diese in einem missbräuchlichen Setting stattfinden – und zum anderen den Wunsch, raumgreifend und expansiv zu sein, sich in ein Netz aus ständig fließenden Informationen zu entäußern und genau dadurch Kontrolle und Übersicht zu erleben.

Es gibt so viele beschriebene Erfahrungen in diesem Roman, die an trans* und / oder neurodivergent und / oder behindert sein anknüpfen, die Erlebnisse von Othering im Detail spür- und artikulierbar machen. Sidras Gefühle erscheinen so menschlich – in einem guten und wahrhaftigen Sinne. Denn tatsächlich verfügt Sidras – vorerst nicht von ihr editierbare – Basiskonfiguration über ein Wahrheitsprotokoll, das es ihr nicht erlaubt zu lügen. In dem sie sich selbst die Programmiersprache Lattice, in der sie verfasst ist, durch einfachen Download beibringt, und einen Fernuniversitätskurs dazu besucht, gelingt es ihr schließlich mit Hilfe ihrer befreundeten Person, Tak, ihren Code zu modifizieren und das Wahrheitsprotokoll außer Kraft zu setzen. Sie hat nun außerdem Zugriff auf ihre eigene Bestimmungsdatei.

Aus Sidras Geschichte heraus ergeben sich so viele spannende, weitreichende Überlegungen. Wie hängen Intelligenz, Identität und Informationsverarbeitung mit Verkörperung / Embodiment zusammen? Können KIs empfindungsfähige, selbstbestimmte Wesen mit eigenen Bedürfnissen, Wünschen, Träumen und Gefühlen sein? Sollten wir unsere physische Existenzform verändern / wählen / wechseln dürfen, wenn unsere jetzige nicht zu unseren Empfindungen passt? Was ist die Bestimmung, der Sinn eines Lebens? Welche Einschränkungen / Möglichkeiten ergeben sich durch eine Verpflichtung, immer die Wahrheit sagen zu müssen? Welche Konsequenzen hätte es, wenn wir Basiskonfigurationen unseres Selbst auf einer grundlegenden Ebene überschreiben oder löschen könnten?

Tak, ein*e genderfluide*r Äluoner*in – ein*e so genannte*r Shon*in und Tätowierer*in mit Geschichtsstudium – bekommt für mich als Nebenfigur etwas zu wenig Raum. Sie*Er – die Pronomen wechseln immer wieder, je nach dem, in welchem Geschlecht sich Tak aktuell befindet – wird für meine Begriffe oft eher ängstlich, zurückhaltend und naiv dargestellt. Sidra gibt in ihrer Beziehung eindeutig den Ton an überredet Tak zu Handlungen, die Tak aus sich heraus nicht tun würde. Das Wechselspiel in Sidras kognitiven Bahnen zwischen dem Wunsch, anderen zu gehorchen und von ihnen gemocht zu werden, und dem starken Bestreben nach Autonomie und Wirkmacht ist spannend zu beobachten.

Beim Flimmerfest, einem Fruchtbarkeitsritus der Äluoner*innen, auf Port Coriol erfahren wir viel über die Geschlechter, Reproduktions- und Familienkultur und -politik dieser Spezies.
Im Gegensatz zu den Aandrisks geht es hier viel weniger um Körperlichkeit und Intimität, obwohl auch diese, die von den meisten Spezies als die ästhetisch „schönste“ im Wayfarer-Universum wahrgenommene, die silberne Schuppen besitzt, Eier legen. Aufwändig ausgebildete und hoch spezialisierte Väter kümmern sich hier um den Nachwuchs und präsentieren sich in einer aufwändig gestalteten Schau den potenziellen Müttern, die unvorhersehbar irgendwann in ihrem Lebenszyklus „flimmern“ und nur dann kurzzeitig und kurzfristig fruchtbar sind. Für die Zeit der Schwangerschaft pausieren sie kurz ihr Berufsleben und werden – ebenfalls von den Vätern – umsorgt wie Königinnen. Dieses komplett durchoptimierte Konzept von Care spricht mich nicht so stark an wie das lässige der Aandrisks, ist aber Lichtjahre besser als das der menschlichen Spezies zum Zeitpunkt dieser Rezension.

Mutterschaft spielt noch auf einer anderen Ebene eine bedeutende Rolle in „Zwischen zwei Sternen“. Pepper bzw. Jane 23 wurde – nach ihrer eher zufälligen Flucht aus der Fabrik – von einer KI namens Eule aufgezogen, die in einem von einer Familie mit Kindern verlassenen Schiff zwischen den Schrotthaufen installiert ist und dort mit Restenergie über teils verdeckte Sonnenpanele überlebt hat. Sie rettet Jane 23 das Leben und leitet sie an, das Schiff zu reparieren und instand zusetzen, wofür Pepper durch ihre Zwangsarbeit in der Fabrik bestens ausgebildet ist. Eule ist eine durchgehend fürsorgliche und empathische Mutter – ganz im Kontrast zu den autoritären und gewalttätigen Maschinenmüttern aus der Fabrik. Es gelingt den beiden, obwohl Jane immer kränker und schwächer wird, in den Weltraum zu fliegen und eine Außenposten der Galaktischen Union (GU) zu erreichen, wo Jane geheilt, das Raumschiff und mit ihm Eule als veraltete und nicht mehr zulässige Technik beschlagnahmt und damit von Jane getrennt wird.

Peppers Mission ist es, Eule, ihre Mutter, ihre Familie neben Blue, wiederzufinden, was ihr am Ende mit Sidras Hilfe, die Eule zeitweise in sich aufnimmt, nachdem sie ein Abkappselungsprotokoll geschrieben hat, um ihren eigenen Code zu schützen, auch gelingt. Eule und Sidra beziehen danach einen neuen Raum und teilen sich diesen, und Sidra experimentiert mit weitern Formen der Verkörperung, indem sie auch in Tier-Kits expandiert, durch die sie sich fortbewegen, orientieren und explorieren kann.

„Zwischen zwei Sternen“ ist für mich ein großartiges Buch über Embodiment und Selbstbestimmung, darüber den eigenen Raum und Sinn im Leben zu finden, und hat mir unglaublich viel Freude gemacht.

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Wayfarer I

[Inhaltswarnung: Diese Rezension enthält viele inhaltliche Details des Romans „Die lange Reise zu einem kleinen, zornigen Planeten“ von Becky Chambers.]

Sehr lange wollte ich gar keine Science Fiction lesen oder sehen.
Weltraum, andere Spezies und Welten schienen mir völlig unnötig – denn auf der Erde gibt es ja schon genug zerstörerische, „vernunftbegabte“ Lebewesen, politische, oppressive Systeme, strukturelle, offenkundige Missstände etc. Warum noch neue erfinden?

Unter anderem über den Genderswapped Podcast von Judith Vogt und Lena Richter bin ich auf den Wayfarer-Zyklus von Becky Chambers aufmerksam geworden. Da ich davor schon ein bisschen – ok, erst widerwillig – Star Wars gesehen hatte und begeistert von der Serie „Lost in Space“ (ein bisschen auch von „Foundation“) war, wollte ich den Büchern eine Chance geben. Bisher habe ich die ersten beiden Bänder gelesen. Und: Mit der Crew von Buch I würde ich sofort im All leben wollen.

Was mich besonders an dem Roman „Die lange Reise zu einem kleinen, zornigen Planeten“ begeistert, ja glücklich, hoffnungsvoll und utopisch gestimmt hat, ist die raumgreifende Herzlichkeit (von „Menschlichkeit“ kann mensch angesichts der verschiedenen beschriebenen Spezies schlecht sprechen und auch nicht mit Blick auf die politische Aushöhlung dieses Begriffs). Nahezu alle Wesen handeln aus ernsthaft guten Intentionen und Gefühlen heraus. Beziehungen – auch interspeziäre – sind grundlegend von gegenseitigem Respekt, Empathie und Verständnis füreinander geprägt. Es klingt unglaublich kitschig, aber ich habe das beim Lesen als so wohltuend und heilsam empfunden, weil es weder in der Realität, noch in anderen Medien so durchgängig und authentisch vorkommt. Oft geht es „um der Spannung willen“ (oder aus welchen Gründen auch immer) um Intrigen, interpersonelles Drama, Machtausübung und -missbrauch, „Gut gegen Böse“ etc. Ich kann verstehen, warum solche klassischen Narrative interessant sein können, mich spricht das wenig an, da ich selbst an diesen Dingen kein Interesse habe – weder in meinem persönlichen Leben noch in meiner Freizeit, weder diese Dinge selbst zu tun, noch andere sie tun zu sehen.

Ich liebe an diesem Roman, dem gesamten Wayfarer-Universum, besonders die verschiedenen nicht-menschlichen Spezies mit ihren differenten und differenzierten Kulturen, Sprachen, Ausdrucks- und Kommunikationsformen, wie sie soziale Beziehungen gestalten, Geschlecht, Sexualität und Reproduktion verstehen und leben. Es ist eine solche Bereicherung andere, vollkommen realistische Entwürfe von Identität, Familie und Gefühlsexpression so detailliert und überzeugend beschrieben zu lesen – jenseits von menschlichen Organisations- und Wissenssystemen, die ich selbst oft als einschränkend, mangelhaft und diskriminierend empfinde.

Die ausgeprägte, in vielen Teilen körperliche Intimität der Aandrisks erscheint mir so erstrebenswert, genauso wie ihre Konzepte von Nest-, Feder- und Hausfamilie, wo Kinderbekommen und -aufziehen sich viel stärker an erwachsenen Bedürfnissen in unterschiedlichen Lebensphasen orientiert – was u.a. auch dadurch erst möglich ist, dass die Schlüpflinge von Anfang an selbstständiger sind und weniger auf Erwachsene angewiesen sind, zu denen sie aufschauen und sie imitieren – ohne dabei Forderungen an sie zu stellen. Es ist einfach eine sehr schöne polyamore Kommunefantasie, in der Carearbeit nebensächlich gut organisiert ist.
Besonders berührend fand ich zum einen eine Szene, wo die Aandrisk Sissix einer älteren Aandrisk, die aufgrund von kommunikativer und sozialer Andersartigkeit vereinzelt (und ausgeschlossen) lebt, (auch physisch-sexuelle) Fürsorge und Liebe schenkt. Besonders intime, komplexe Gefühle können Aandrisks über Gesten, ohne Worte miteinander austauschen – was für eine großartige Vorstellung.
Zum anderen bietet Rosemary, eine Menschenfrau, die als Verwaltungsassistentin auf dem Tunnelerschiff anfängt, Sissix ihre körperliche Zuwendung an, nachdem sie Sissix mit anderen Aandrisks auf ihrem Heimatplaneten in ihrer Federfamilie – glücklich und entspannt – erlebt hat und erkennt, wie sehr die Aandrisk diese intensive Intimität unter anderen Spezies vermissen muss. Sissix lebt ihre Zärtlichkeit vorher in Teilen am Kapitän des Schiffes, Ashby Santoso, aus, indem sie ihre Wange an ihm reibt oder ihn an der Schulter berührt – Gesten der Zuneigung, die – aus menschlicher Wahrnehmung – nicht ihrer professionell-freundschaftlichen, rein platonischen Beziehung entsprechen, was er annimmt bzw. geschehen lässt.

Ashby selbst lebt in einer Fernbeziehung mit einer Äluonerin, Pei, mit der er nur sporadisch zusammenkommen kann. Die ebenfalls sehr interessante Geschlechterordnung, Familienpolitik, Sprach- und Gefühlskultur der Äluoner*innen spielt in Buch II eine stärkere Rolle. In Buch I ist aber bereits zu erfahren, dass diese Spezies ursprünglich keine Lautsprache besitzt – aber nun Sprachboxen in ihren Kehlköpfen benutzt, um mit anderen Spezies zu kommunizieren -, sondern über Farben, die auf ihren Wangen sichtbar sind, miteinander sprechen.
Eine weitere, interspeziäre sehr intensive Liebesverbindung besteht zwischen dem kleinwüchsigen Comptech, Jenks, und der gefühlsbegabten KI des Schiffes, Lovelace, genannt Lovey. Um sich noch näher sein zu können, überlegen die beiden über den Roman hinweg, ob Lovey aus den Kommunikationssystemen der Wayfarer in ein Bodykit wechseln könnte bzw. möchte – was gesetzlich verboten ist. Unglaublich interessante Fragen wie „Ist eine KI (auf einem sehr hohen Funktionsniveau) ein vernunftbegabtes Wesen?“, „Ist ein Körper für eine Liebesbeziehung notwendig?“, „(Wie) Ist Intelligenz und Identität an eine physische Existenzform (Embodiment) gekoppelt?“ werden in Teil II des Wayfarer-Zyklus intensiv und innerhalb einer spannenden Storyline behandelt.

Der Koch des Schiffes ist ein Grum, eine Spezies, bei der zu Beginn des Lebens alle Wesen weiblich, also Töchter und Mütter sind, und die sich dann in der Mitte des Lebens zu Männern entwickeln. Grums sprechen an sich multitonal, mit zahlreichen schwingenden Stimmbändern gleichzeitig und Gedanken werden ebenfalls immer laut in Tönen und Geräuschen gedacht. Um mit den anderen Spezies auf Klip, eine Art Englisch oder Esperanto, sprechen zu können, reduziert Dr. Koch seinen komplexen Lautapparat auf möglichst eindimensionale Schallwellen.
Zur Crew gehört außerdem noch ein Sianatpaar, das im Plural angesprochen wird, da sie von einem Virus infiziert sind, das für den Großteil der Spezies als heilig gilt, ihnen besondere navigatorische Fähigkeiten verleiht, aber sie auch nach und nach töten. Die Pronomen und der Glaube von Ohan werden von allen respektiert und geachtet, auch als sich am Ende herausstellt, dass es ein Heilmittel gegen das Virus gibt, das Ohan wieder gesund und zu einem Individuum machen könnte – was erstmal als ein Akt der Häresie erscheint.
Generell wird innerhalb der Galaktischen Union (GU) über alle nicht-geschlechtlich verortbaren Wesen erst einmal mit geschlechtsneutralen Pronomen „ser/sir“ gesprochen.

Es ist nicht alles „heile Welt“ in „Die lange Reise zu einem kleinen, zornigen Planeten“ – gerade zum Ende verdichten sich konfliktbehaftete Szenen. Die Quelin und Toremi sind keine besonders friedlichen Spezies – und dennoch erscheint mir ihre Brutalität und Orthodoxie glaubhaft und redlich, da sie nachvollziehbare Überzeugungen vertreten und nach diesen handeln – auch hier gibt es keine Scheinheiligkeit.
Der Kolonialismus durch die Harmagianer*innen liegt in der Vergangenheit, wird aber immer wieder indirekt und direkt thematisiert.
Interessant finde ich außerdem die entworfene Modder-Kultur, in der sich Menschen (und andere Spezies ?) körperlich modifizieren, um „ihr wahres Selbst“ hervorzubringen. Es geht dabei nicht um leistungsorientierte Optimierung, sondern um Selbstausdruck, also das technisch aus 1 hervorzuholen, was 1 in sich wahrnimmt.

Wenn es eine Sim gäbe, in der ich Teil des Wayfarer-Universums werden könnte, würde ich es sofort tun.