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Elternschaft

Kinderwünsche

Wenn aus der Sicht von Kind 2 etwas komplett schief gelaufen ist (und Kind 2 schreit und tobt und schlägt und stampft), wünscht es sich oft, dass ich die Zeit zurückdrehen soll. Um noch einmal neu zu beginnen ab da, wo die falsche Entscheidung getroffen, die falsche Handlung ausgeführt wurde.

Und ich fühle es. Ich wünschte, ich hätte die Muffins nicht schon ohne Kind 2 am Nachmittag gebacken, obwohl mir insgeheim klar war, dass es sehr sehr wütend und enttäuscht sein würde, weil es das gerne mit mir zusammen machen wollte. Verständlicherweise.

Ich wünschte, ich könnte Kind 1 anders abgestillt haben als mit Fertigwaffeln vom Discounter. Ich wünschte, wir hätten von Beginn an mehr Rituale für Körperpflege eingeführt. Ich wünschte, ich hätte meine körperlichen und psychischen Grenzen in der Kernfamilie besser wahren können, um nicht in diese Überforderung zu geraten, die u.a. zu diesen Dingen oder ihrem Ausbleiben geführt hat. Ich wünschte, wir hätten es als Elternpaar besser geschafft, uns Freiräume zu geben, um mehr Kraft für das Durchsetzen eigener Bedürfnisse übrig zu haben.

Es ist nie zu spät, Dinge zu verändern, die schlecht laufen oder bei denen ich mich unwohl fühle. Es ist noch nicht unmöglich, ein weiteres Kind zu bekommen – in einer Konstellation, die ich für mich als adäquater einschätze, und ein #lebenmitkindern zu leben, das ich mir wünschen würde.

Als ich unbedingt (!) Kinder wollte, wusste ich nicht, was das bedeutet oder welche Alternativen Familienformen es gegeben hätte, die vielleicht besser zu mir passen. Primär wollte ich Kinder, um mir und anderen etwas zu beweisen. Dass ich nach den Jahren der Essstörung überhaupt Kinder bekommen kann. Und ich wollte jung Elter werden, um meinen ideologischen Standpunkt zu demonstrieren, dass das das „richtige“, das „gute“ Alter ist. Nicht wenn mensch fertig ist mit allem als Krönung und Fortsetzung der eigenen Existenz, sondern im unfertigen Werden.

Jetzt würde ich noch einmal ein Kind bekommen, um als trans maskuline Person ein Exempel zu statuieren. Um es zu machen, weil es geht und um zu wissen, wie es ist. Wie die Leute reagieren – ja, es geht wieder um einen radikalen, demonstrativen Akt. Dazu kommt, dass ich Schwangerschaften und Geburten als sehr empowernd erlebt habe, und die alten Motive immer noch wirksam sind. Ich weiß, mein Körper kann das und das auch noch sehr gut. Es war und wäre eine weitere körperliche Grenzerfahrung, die mich fasziniert.

Ich weiß, dass das alles höchst unmoralisch ist. Vielleicht ist es komisch oder lächerlich – verwerflich, überhaupt so etwas zu denken und dann auch noch zu wollen. Aber es ist so. Und irgendwie habe ich meinen Frieden mit diesen Motiven und dem Wissen darum gemacht. Nicht alles, was gedacht und gewollt wird, muss gemacht werden. Und dennoch.

Zuletzt kam in queeren Kontexten mit Kindern der Wunsch, die Idee plötzlich wieder auf. Weil sich meine Carearbeit in diesen Settings stark reduziert hat, weil meine Kinder dort selbst beschäftigt und selbstständig sind. Weil es da süße Babys gibt und coole andere Eltern und sogar Paare, die irgendwie gut zusammen und mit ihren Kindern klarzukommen scheinen. Und dann denke ich, ich würde gerne ein Kind mit solchen Leuten bekommen oder vielleicht besser noch für sie.

[Kleiner Exkurs: Dabei ist mir aufgefallen, wie befremdlich (und eklig) ich die Vorstellung finde, „fremdes“ Sperma in meinem Körper zu haben – also von einer Person, mit der ich nicht in einer romantischen und/oder sexuellen Beziehung bin. Darüber hatte ich bisher noch gar nicht nachgedacht. Ob ich demisexuell bin, habe ich mich auch schon häufiger gefragt – nur ein loser Zusammenhang. Ich hatte und habe in meinem Leben einfach sehr wenige körperliche Beziehungen zu Menschen – auch jenseits von Sex – und ausgenommen der zu den Kindern, die ja lange Zeit quasi konstant auf 1 leben.]

Für mich ist vollkommen klar, dass ich auf keinen Fall noch einmal die komplette Carearbeit und Verantwortung für ein Kind (alleine) übernehmen will. Ich wäre gerne der Freizeitdaddy oder fun uncle, wo ich dosierter und selbstbesftimmter Zeit mit Kindern verbringen und gleichzeitig (überforderte, müde und gestresste) Eltern entlasten könnte – regelmäßig, zuverlässig und auch bei Krankheit und im Alltäglichen -, weil ich weiß, wie hilfreich das sein kann und wie oft Eltern am Limit sind.

Anders gesagt: Ich wünschte, ich hätte keine oder anders Kinder bekommen oder in meinem Leben, als ich es jetzt habe. #regrettingparenthood beschäftigt mich immer wieder. Oft habe ich keinen Spaß mit meinen Kindern. Ich finde die meisten Dinge extrem anstrengend, nervig oder langweilig, die den Alltag ausmachen. Es gibt Momente, die ich wirklich schön finde – es sind wenige. Und meistens gehen sie in den anderen 85%-nicht-schön unter.

Hätte ich Co-Elternschaft damals gekannt, vielleicht hätte ich es versucht. Andererseits hätte ich mich wahrscheinlich zu dem Zeitpunkt sozial gar nicht in der Lage gefühlt, so etwas mit anderen anzugehen. Und natürlich kann ich Entscheidungen in der Vergangenheit nicht mit dem Wissen und der Erfahrung von heute beurteilen.

Jetzt kenne ich niemanden, mit dem ich das oben beschriebene Experiment durchführen könnte. Was vielleicht auch gut ist, weil es ethisch fragwürdig wäre, ein Kind aus den genannten Gründen zu bekommen. Die Frage ist, welche „guten Gründe“ andere Menschen haben. In cis-hetero Kontexten scheint es mir oft so, als ob es gar keine tiefergehenden Gründe braucht, weil „macht man halt so“ oder „passiert halt“.

Teilzeit-Ein-Elter-Sein ist auch einfach strukturell schlecht. Es ist besser als vorher, weil es mir mehr Autonomie und Gestaltungsmöglichkeiten einräumt. Darüber hinaus wünsche ich mir so sehr, in ein Netz aus anderen Eltern und Menschen eingebettet zu sein, wo zusammen gekocht, gespielt und geredet wird. In meinem Alltag fehlen mir einfach erwachsene Menschen, mit denen ich mich austauschen, abwechseln, auskotzen und abgleichen kann. Die andere Räume eröffnen und Impulse geben – mir und den Kindern. Menschen brauchen andere Menschen – weniger Materielles und Mediales.

Alle bleiben in ihren Kleinfamilien, ab und zu tauscht man mal Kinder oder trifft sich auf dem Spielplatz. Andererseits weiß ich nicht mal, ob ich überhaupt für etwas Kollektivistischeres geeignet wäre. Wahrscheinlich nicht. Viel macht wahrscheinlich auch die Wohnsituation aus. Wie groß ist die Wohnung (gibt es Rückzugsräume), gibt es einen Garten oder die Möglichkeit, „einfach“ draußen zu spielen, wohnen andere Kinder in der Nähe, sind die Erwachsenen kompatibel.

Ohne die Erfahrung der Elternschaft wäre ich nicht die Person, die ich jetzt bin. Wahrscheinlich hätte ich mich aus mir selbst heraus nicht so gepusht, was die Reflexion meines Verhaltens angeht – vielleicht aber schon in anderen Kontexten. Ich würde gerne noch so viel Neues, Anderes ausprobieren, wozu mit Kindern einfach die Zeit und der Raum fehlt. Ich hasse es, meine Interessen zurückstellen zu müssen.

Warum manches, was für andere vielleicht Standard ist, bei mir hinten runtergefallen ist und weiter fällt, ist, dass ich bestimmte Dinge, die für mich essentiell / existenziell sind, einfach knallhart durchziehe – no matter what. Studium / Beruf, Sport / Bewegung, Safe / Same Food sind Lebensbereiche, bei denen ich kaum bis keine Kompromisse mache(n kann).

Manchmal frage ich mich, ob ich meine Prioritäten falsch setze oder Ressourcen schlecht verteile. Eine für alle möglichst passende Bedürfnisbalance herzustellen, ist aber auch einfach eine krasse, kaum stabil zu schaffende Aufgabe. Und mehr kann ich anscheinend nicht geben. Ich kann mich anstrengen, reflektieren und verändern, womit ich seit Jahren täglich beschäftigt bin – individuelle und gesellschaftliche Rahmen- und Randbedingungen kann ich kaum beeinflussen.

Da ich – wie ich Kind 2 regelmäßig zu dessen weiterer Frustration erklären und gestehen muss – die Zeit nicht zurück drehen kann, wünsche ich mir, dass ich noch mehr Frieden mit mir und meinem Eltersein schließen kann und die Kraft und Ressourcen finde, um die Dinge zu verändern, die zu einem für mich passenderen und angenehmeren Leben mit Kindern führen.

Aber vielleicht bleibt auch das einfach ein kindlicher Wunsch.

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Leben

Ambivalenzspektrum

Ich denke, ich bin ein eher konfliktscheuer Mensch. Ich neige eher dazu, mich nach außen hin anzupassen, still zu sein und zu beobachten, wie es so läuft, bis ich die Situation und Menschen, meine Position und Handlungsoptionen darin besser einschätzen kann. In der Vergangenheit ist es mir oft passiert, dass ich meine Grenzen nicht gekannt und nicht kommuniziert habe. Dass ich und andere darüber hinausgegangen sind und ich es ausgehalten habe, bis es nicht mehr ging. Ich will keine „Umstände“ machen und nicht als „komisch“ wahrgenommen werden, weil ich Angst vor Ablehnung und Abwertung habe, wenn ich für meine Bedürfnisse einstehe. In der Konsequenz habe ich viele Situationen und Menschen auch einfach gemieden, die mir Angst gemacht haben. Dieses Ausweichen führte dann zu Scham und Schuld bei mir und Ärger und Enttäuschung bei anderen, weil ich „es“ nicht konnte.

Es gibt eine Handvoll Situationen in meinem Leben, die aufgrund ihrer emotionalen Intensität in diesem Kontext in mir versammelt sind. Und wenn sich wie zuletzt ein neuer Konflikt dazu gesellt, glimmen die alten noch einmal auf und sagen Hallo. 

„Krise als Chance“ heißt es so schrecklich in Küchenpsychologie und Politik. 
Erst in den letzten paar Jahren, vielleicht erst Monaten bin ich tatsächlich soweit in meiner Selbstreflexions- und Abstraktionsfähigkeit gekommen, nicht mehr in meinen akuten Gefühlen bei sozialen Konflikten verloren zu gehen. Gefühle von Angst, Panik, Scham, Schuld, Wut, Ungerechtigkeit, Abwehr, Verletztheit, Kränkung sind immer noch da. Aber es gelingt mir diese bewusster wahrzunehmen, sie zu benennen und ihr zyklisch-sequentielles, retardierend-kontinuierendes Auftreten mit einer gewissen Distanz zu beobachten.

Und was sich erst wieder wie ein Scheitern anfühlt, was es auch ist, und eine Art Rückfall und Rückkehr zu einer „unperfekten“ Version von mir, die ich nicht sein will, trete ich dennoch nicht auf der Stelle, weil die Umstände andere sind und ich ein anderer geworden bin. Es ist so frustrierend und peinlich, fehlbar zu sein. Den stimmigen Punkt von berechtigter Kritik an meinem Verhalten, für das ich die Verantwortung übernehmen muss und will, – zwischen vollständiger selbstzerknirschter Annahme und totaler selbstschützender Abwehr – in mir und der Situation zu finden, ist so unfassbar schwer. Weil es keine Objektivität und Wahrheit jenseits einer intersubjektiven Verständigung darüber gibt, weil all diese Gefühle, gesellschaftlichen und politischen Randbedingungen, historischen und situativen Kontexte ihren Einfluss haben auf das, was wir als individuell und immanent erleben.

Ausgerechnet hatte ich noch etwas über „Skripte“ gelesen – als ein Tool und Beschreibungsinstrument für soziale, normierte Interaktion. Wie viel von dem, was wir sagen, denken und tun, ist wirklich „authentisch“, „individuell“? Wir sind schon vor unserer Geburt eingebettet in Strukturen, die in uns eingeschrieben sind und ständig neu- und umgeschrieben werden. Für mich als Fanboy des Konzeptes „Performativtät“ fügt sich das gut in mein Weltbild ein. Es gibt für alles eine Art Vorschrift / Gerüst, wie es zu tun ist, bleibt aber in der Ausführung offen und flexibel für Adaption durch die Ausführenden (siehe auch (Epi-)Genetik). Es ist wie mit Wittgensteinschen „Familienähnlichkeiten“: Es gibt ein Konzept „Stuhl“ oder „Spiel“, aber nie ließen sich alle Eigenschaften genau definieren, die kein Gegenbeispiel möglich machten.

Im Rahmen von Geschlecht oder Neurodivergenz fällt oft der Begriff „Spektrum“. Ich denke viel über Ambivalenz und die Gleichzeitigkeit von scheinbar gegensätzlichen Dingen, gerade Gefühlen nach. Für sehr viele Fragen, die mich beschäftigen, kann ich zwei binäre Pole definieren, die die Enden eines Spektrums darstellen und ein potenziell unendliches Dazwischen eröffnen. Und irgendwo in diesem Dazwischen bin ich, in vielen Dimensionen.

  • Abwehr – Annahme 
  • Distanz – Nähe
  • Autonomie – Bindung
  • Verletzlichkeit – Intimität
  • Wut – Zuneigung
  • Stärke – Schwäche
  • Abgrenzung – Anpassung
  • Weiterentwicklung – Komfortzone
  • Überforderung – Safe Space
  • Skripte / Automatismen – Individualität / Authentizität 
  • Gesellschaft  – Individuum
  • Scheitern / Fehlbar sein – Gut sein / Gemocht werden
  • Selbstbild – Fremdbild
  • Abwertung – Überhöhung
  • Selbstverwirklichung – Sicherheit
  • Alien sein – Privilegien besitzen
  • Resilienz / Klarkommen – Therapie / Unterstützung brauchen
  • Verhalten / Performance  – Identität / Charakter
  • Sichtbar queer sein – Passing / Unsichtbar sein

Am besten kann ich mir das mit Farben im Raum vorstellen. Das Farbspektrum jedes Spannungsfeldes wird durch die definierten Farben der zwei Pole vorgegeben. Wie groß die einzelne „Wolke“ ist, wie kräftig die Farben sind, welche Mischung sie hat, wo das Epizentrum liegt, wo eine einzelne Farbwolke im Verhältnis zu den anderen ist, verändert sich biografisch und situativ. Davon abhängig gibt es auch Anziehung, Abstoßung und generell Spannungen zwischen den einzelnen Farbwolken, die unabhängig von der inneren Dynamik jeder einzelnen diese von Außen als Teil eines aufeinander bezogenen Systems beeinflussen.

Ich fände es toll, davon eine Visualisierung machen zu können. Wenn ich jeden Tag mein persönliches, aktuelles Wolkenfeldspektrum bestimmen und betrachten könnte. Wie sich die Farbverläufe, -intensitäten, – mischungen, Größen, Positionen, Überschneidungen, generell Beziehungen der Wolken im Laufe der Zeit verändern. 

Ich glaube, das ist, was Leben so anstrengend macht. Ständig eine Balance herzustellen, zwischen den ganzen inneren und äußeren Anforderungen und Bedürfnissen, ein stimmiges Gleichgewicht der Farbwolken zu finden, ein harmonisches Bild – ohne dass es ständig regnet, blitzt und alles zur Unkenntlichkeit verläuft.