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Elternschaft Literatur TRANS

Detransition, Baby

Dieses Buch hat mich so begeistert und umgehauen (rw).

Mir war nicht klar, welchen fundamentalen Unterschied es macht, wenn ein Buch von trans (femininen) Personen für trans (feminine) Personen geschrieben wird und sich nicht primär an ein cis Publikum richtet. Gedanken, Ansichten und Wahrheiten, die sonst vielleicht nur im Vertrauen zwischen trans* Personen ausgetauscht werden, können in ihrer ganzen Schmerzhaftigkeit, Aufrichtigkeit und Ambivalenz geäußert und diskutiert werden – in einem „sicheren“ fiktionalen Rahmen, der (fast) alles darf. Ich fand es wirklich überwältigend (gut) und mir war nicht klar, wie sehr mir diese Form der Repräsentation gefehlt hat.

Herausragend finde ich die Darstellung von und den Umgang mit Ames’/Amys (De)Transition. Reeses gnadenlosen Blick darauf und Ames’/Amys eigene Beschreibungen seines/ihres Erlebens von Sexualität, Begehren und Körperempfinden. Die Poppers-Szene, den Anzug und den treuen Hund werde ich nie vergessen. Ich finde es meisterhaft, wie stimmig Namen und Pronomen wechseln.

Reese ist einfach die coolste Person. Ihre „Mom-Schwärmerei“, ihre Kompromisslosigkeit und Klarheit in Bezug auf sich selbst und andere. Ihre kritische Analyse von Katrinas plötzlich entdeckter Pseudo-Queerness als willkommene Medikation für ihre Midlife Crisis als geschiedene cis-hetero Frau und der scheinbar utopischen Fiktion queerer Elternschaft.

Ich bin so gespannt auf „Nevada“ von Imogen Binnie, das der Ursprung dieses Genres und Buches war.

Meine liebsten Zitate

„Im ersten Jahr der Transition ging es, wie Amy festgestellt hatte, darum zu verstehen, wie sehr man sich selbst belogen hat. Wie unzuverlässig die eigene Selbsteinschätzung ist und wie wenig man die Selbstwahrnehmung aus der Vergangenheit für die Transition nutzen kann. Das Schlimmste war, dabei zuzusehen, dass die eigenen „Bewältigungsstrategien“, wie es in der Therapie heißt, nicht mehr funktionieren. Plötzlich kommt der Moment, vom man sieht, wie viel Angst man gehabt hat und wie groß der Schmerz war, mit dem man als Junge gelebt hat, ehe dieser Schmerz und die Angst dann wirklich zuschlagen und einen zerreißen. So wie in den Filmen aus den Fünfzigerjahren, wo Männer die ersten Atombombentests beobachten, erst das Aufleuchten und den aufsteigenden Pilz sehen, dann für den Bruchteil einer Sekunde noch die shivahafte Zerstörung bestaunen, bevor die Schockwelle ihre glühenden Körper rückwärts in die Luft katapultiert, zusammen mit der Kamera, die sie aufnimmt, bis man nichts mehr sehen kann, nur noch spüren.
Und dann entwickelt man neue Bewältigungsstrategien, eine neue Sprache, neue Mauern, hinter denen man sicher ist.“

S. 167/168

„Nichts von dem Geld würde an trans Menschen gehen. Die GLAAD konzentrierte sich wie die meisten großen schwulen Organisationen auf Botschaften und Lobbyismus: Das Geld war nicht für trans Menschen gedacht, es war dafür da, eine sachgerechte Diskussion über Themen wie trans Menschen zu unterstützen.
Entsprechend war in den Zeremonien und Vorträgen mit großer Emphase davon die Rede, dass es trans Frauen erlaubt sein müsse, öffentliche Toiletten zu besuchen. Reese interessierten öffentliche Toiletten einen Scheiß. Der Supreme Court hatte gleichgeschlechtliche Ehen gerade erst gesetzlich anerkannt. Diese cis Homos, die sich Trips nach Afrika ersteigern – ihr großer Siegt war innenpolitisch. Sie hatten die Optionen für die amerikanische Kleinfamilie neu geordnet und sich selbst das Geschenk der Hetero-Institutionen gemacht: Ehe und Elternschaft. Reese wollte für sich dasselbe – nein, tatsächlich wollte sie mehr. Wer braucht öffentliche Toiletten? Wir sind schon in euren Schlafzimmern, vögeln eure Ehemänner und benutzen eure Bäder, vielen Dank.
Reese interessierte eher, wie man ihr einen Ehemann besorgen und wie sie selbst Mutter werden konnte, wenn man sie schon im eigenen Schlafzimmer nicht haben wollte. Sonst machte sie es eben auf ihre Weise. Und weil sie es auf ihre Weise machte, war sie schließlich hier.“

S. 230/231

„[…] Also ganz im Ernst: Zählt eine Detransition genauso viel wie eine Transition, gebührt ihr genauso viel Respekt?“
Das ist ein Thema, bei dem sich die drei trans Frauen herzlich uneinig sind. Iris findet „Ja, absolut“. Thalia sieht das auch so, fügt aber hinzu, dass sich alle etwas vormachen, auch cis Menschen, und die einzige Möglichkeit, alle zu zwingen, aktiv über ihr Geschlecht nachzudenken, besteht darin, jedem Geschlecht gleich wenig Respekt entgegenzubringen. Theoretisch ist Reese auch für diesen Gleichheitsgrundsatz, praktisch respektiert sie zwar viele Geschlechter, Ames’ aktuelles allerdings überhaupt nicht.
In ihrem Herzen ist Ames für sie kein Mann. Sie kann einfach nicht glauben, dass Ames’ Detransition das ist, was sie zu sein scheint. Wie oft hat sie schon vor Amys Detransition miterlebt, dass sie Männlichkeit als schützenden Kokon benutzt hat? Reese hat früh in ihrer Beziehung gelernt einzuschätzen, wie unsicher Amy in dieser oder jener Situation ist. Das sah sie daran, wie viele Spuren aus ihrer Zeit als College-Bro Amy zur Schau stelle. In solchen Momenten wirkte Ames irgendwie blasser, und Reese wusste, dass sie Teile ihrer betäubenden männlichen Rüstung angezogen hatte.
Die Männlichkeit hatte Amy immer erlaubt, nicht zu fühlen. Kurz nach ihrer Transition war Amy vor dieser Taubheit geflohen und mit Reese eine Zeit lang wunderbar präsent und fragil gewesen. Aber sie hatte die Taubheit nie vollständig abgelegt und erkannte diese Eigenschaft später durchaus als nützlich. Iris sprach – als Sexarbeiterin – ähnlich über Dissoziation: die Superkraft, die ihr Erfolg garantierte, lukrativ war und heroisch, wo der Durchschnittssterbliche versagte und seinen Gefühlen erlag. Reese glaubte jedoch nicht an diesen Dreh. Sie konnte den dogmatisch radikalen Sprung nicht ganz nachvollziehen, mit dem Dissoziation vom Bewältigungsmechanismus zur Superkraft wurde.
Ganz hinten in Amys Schrank – den sie sich mal geteilt hatten – hing ein traumhafter Anzug von Zegna, klassisch schmal geschnitten, tiefschwarz und aus matter kardierter Wolle. Amy hatte ihn in ihrem letzten Collegejahr in einem Second-Hand-Shop gekauft, ihn von der Stange gerissen, an sich den Reservoir Dog entdeckt. Beim posttransitionären Aussortieren der Jungsklamotten hatte Amy den Anzug verschont, und ihm ein verborgenes Leben im hintersten Teil des Schranks zugestanden. Reese hätte den Anzug nur zu gern als sentimentales Andenken verstanden, nur dass Amy ihn viel zu selten tatsächlich getragen hatte, wenn Reese nach Hause kam, die Malamute-Augen tausend Meter in die Ferne gerichtet, um wie ein zwielichtiger androgyner James Bond herumzuschleichen.
Reese hatte weder im Allgemeinen noch im Besonderen Geduld mit diesem nostalgischen Männeraufzug. Zugleich hatte sie widerwillig Respekt für die Anzug-Amy, und sei es nur, weil die komplett dichtmachte und dadurch unverletzbar wurde, wenn sie ihn trug. Am nächsten Tag sorgte Reese jedenfalls dafür, dass Amy deshalb kleinlaut und verlegen wurde, wie man es mit einer verkaterten Freundin macht, deren sorgloses Betrinken am Vorabend dir grollende Ehrfurcht abverlangt hat.
Mit der Detransition war Amy über die unerreichbare Distanz langsam erstarrt. Sie war jetzt an einem Ort, wo Reese sie nicht mehr berühren konnte, um sie erneut zu verletzen. Hier geht es nicht um Gender, würde Reeses Schuldgefühl argumentieren, hier geht es um Schmerz. Jeder Schmerz verdient Zuwendung, aber keinen dogmatischen egalitären Relativismus.“

S. 310ff.

„Diese Fantasie muntert Reese auf und hilft ihr, eine wispernde neue Angst zu vertreiben: dass Katrina in ihren spitzfindigen Enddreißigern die Fantasie hegt, Queersein könnte ihre Rettung sein. Dass Katrina in dem Wirbelsturm aus Scheidung, Schwangerschaft und überraschender Transgeschlechtlichkeit den Halt verloren hat und jetzt in den dunklen Gewässern gescheiterter Heterosexualität treibt und nach etwas tastet, woran sie sich festhalten kann, und sei es queere Elternschaft. Wie Katrina über gemeinsame Elternschaft sprach, hatte etwas Utopisches, so wie gerade geoutete Queers mit der größten Inbrunst von romantischer Liebe und Vorlieben sprechen, ohne zu ahnen, was für Dornen das queere Leben bereithält. In ihren paranoiden, grausamen Momenten machte sich Reese schon darauf gefasst, dass Katrina sie fallen lassen würde wie ein queeres Mädchen, das ihr Verlangen nach einem heterosexuellen College-Girl zu zügeln versucht, das ihre Küsse begeistert erwidert hat, nachdem ihr beschissener Freund sie gerade verlassen hat.“

S. 359/360

„In der Küche knackten Reeses Knie, als sie neben dem Regal in die Hocke ging, um das Buch zu finden. Hellgelbes Cover, illustriert mit einem Spitztüten-BH und einem Schnuller. Sie drehte es um und las den Text auf der Rückseite: Dieses Buch beschreibt, wie es ist, zugleich Mutter und Nicht-Mutter zu sein … die Gefühle von Neid und Verlust, die Frauen haben, wenn sie gern schwanger werden würden, aber es nicht können, während ihre Partnerinnen ganz selbstverständlich schwanger werden.
Das hatte Maya gelesen? Und Katrina auch?
Reese fühlte sich gesehen, wenn nicht entblößt.
Doch trotz ihrer Mom-Schwärmerei kam Reese das Etikett „lesbische Mutter“ unpassend vor. Sie war etwas entgeistert, dass ihr Weg zur queeren Elternschaft mit Ratschlägen von cis Lesben beginnen sollte, die ihre Mutterschaft verachteten, und es gelang ihr nicht, das höflich zu überspielen. Jedes Mal, wenn sie ihren Wunsch äußerte, Mutter zu werden, kamen ihr die Leute mit einer politischen Bewegung, die seit dreißig Jahren darauf pochte, dass sie nicht dazugehörte – warum? Abgesehen davon, dass sie offensichtlicher- und angemessenerweise nie mit Katrina geschlafen hatte und das auch weder plante noch wünschte. Sie waren kein lesbisches Paar. Sie waren ein Mutter-Paar. Mit Mom-Schwärmerei. Das war etwas anderes. Und es war wichtig, dass Maya das kapierte.“

S. 366

„Und plötzlich begreift Reese, was hier vor sich geht. Das Wort „heteronormativ“ sagt ihr, was hier gespielt wird. Sie dachte, sie würde hier geoutet. Aber nein, Katrina outet sich ihren Freundinnen gegenüber als queer. Deshalb ist sie so offensiv. So verhalten sich Queerbabys. Die konfrontative Beteuerung als Grenzziehung: So bin ich nun mal, hast du ein Problem damit? Vorgetragen mit dem Fanatismus der Neukonvertierten, deren Engagement noch nicht von Müdigkeit und Kompromissbereitschaft zurechtgestutzt ist, die glaubt, dass die neue Religion die Antworten hat, die ihr in ihrer alten Religion gefehlt haben. Noch auffälliger für Reese: Katrinas Aufregung ist herausfordernd! Sie denkt, queer zu sein, macht sie interessant!“

S. 394

„Dass Ames vorgeschlagen hat, sie könnten eine queere Familie sein. Dass queere Familien so viele Möglichkeiten haben, bei denen sie, als sie verheiratet war, gar nicht gewusst hat, dass sie sie gern gehabt hätte, bei denen sie aber gespürt hat, dass sie ihr in ihrer Ehe mit Danny fehlten. Dass sie immer schon queere Neigungen hatte, wobei sie, weil es eben nicht klipp und klar ums Lesbischen ging, nie wusste, wie sie es nennen sollte.
Ach, so ist das also gekommen?, dachte Reese. Jetzt spinnt sie sich aber was zusammen. Allerdings schien Katrina nicht nur zu spinnen, sie schien es sogar zu glauben. Sie erfand ein neues Narrativ für ihre Scheidung. Diese ungreifbaren Gründe, dieses diffuse Unglück, weshalb sie sich von Danny scheiden lassen musste? Jetzt lag es also daran, dass ihr die Möglichkeit einer queeren Beziehung fehlte, sie es aber nicht so nennen konnte. […]
„[…] Alle sagen, jeder kann aus seiner Ehe machen, was er will, aber manchmal ist, die Institution einfach übermächtig. Wie befreiend, wenn man sich seine eigenen Regeln machen kann.“
Das war für Reese das Heteronormativste, Verheiratetet, was jemals irgendjemand gesagt hat.
Aber Katrina erwidert: „Genau!“
Da lenken die anderen Frauen ein. Plötzlich versteht Reese, warum Katrina so gut in ihrem Job ist. In der Zeit, in der ein paar kleine Desserts verspeist werden, hatte Katrina diese Frauen annähernd davon überzeugt, wie sinnvoll es sein kann, ein Kind mit trans Menschen großzuziehen.
Die Königin der chemischen Reinigung ist die letzte Bastion der Verweigerung. Während alle anderen schon zögernd ihre Befürwortung signalisieren, legt sie die Stirn in Falten, als würde ihr der Gedanke Schmerzen bereiten. Dann sagt sie: »Ich weiß nicht. Irgendwie will doch heutzutage jeder und jede irgendwas Queeres. Als wäre das eine Modeerschei-nung. Und am Ende sind einfach ganz viele von uns verletzt.«“

S. 396/397

„Vor dieser ganzen Genderscheiße war ihr Körper wie ein guter Hund. Vielleicht war er nicht nur das, aber ihr Hund tat alles, was sie wollte: Sie bewegte sich rasend schnell, zog sich an Bäumen hoch, sprintete durch Wälder und über Felder, ausgelassen und mit wedelndem Schwanz. Sie hatte Glück, so einen Hund bekommen zu haben. Sie hatte so einen guten Hund nicht verdient. Sie hatte gedacht, sie würde diesen Hund immer haben – wenn sie beide alt waren, würde er ihr zu Füßen liegen wie ein Seesack, treu und gehorsam und lieb bis zum Schluss.“

S. 425

„Durch die Transition verlor Amy ihren Hund. Damit gab es nur noch sie. Sie und ihr Körper waren identisch. Jedes Gefühl gehörte jetzt einfach und ohne Mittler zu ihr. Das sollte eigentlich etwas Gutes sein. Und manchmal war es das auch. Sie musste nicht mehr aus dem Verhalten ihres Hundes schließen, was los war. Aber ohne einen Hund, dem für sie und an ihrer Stelle etwas wehtat, war ihr Leben als Frau ein Leben mit Schmerzen. Schmerzen, die ertragen, die ausgehalten werden mussten, Schmerzen, die bedeuteten, am Leben zu sein, und die folglich niemals aufhörten.
Als Jon schlägt, versucht Ames, auf seinen Körper zu hö-ren. Er hat schon lange nicht mehr an seinen Hund gedacht.
Hat er noch einen Hund? Er hatte geglaubt, seinen Hund mit der Detransition zurückzubekommen, aber so war es nicht.
Er hat schlicht das Lebendige von beidem verloren, von Schmerz und Freude. Die Welt ist in erträgliche Ferne ge-rückt, die Farben ungesättigt, aber der Hund blieb tot. Irgendwie feige, wie Ames es vermieden hat, darüber nachzu-denken, weil er hoffte, es würde schon reichen. Aber natürlich hatte er die letzten drei Jahre seines Lebens so verbracht, dass ihm wenig abverlangt wurde – ein ambitionsloser Bürojob, eine Beziehung, die ihm passiert ist, ohne dass er danach gesucht hat, sosehr er Katrina auch liebt, Freunde, die ihn gut, aber nicht zu gut kennen. Nur muss er jetzt, mit diesem Baby, diesem Werk seines verräterischen animalischen Körpers, wissen, was seine wahren Gefühle sind. Als Jon außer Puste ist, übernimmt Ames noch mal. Der Schläger schwingt und schwingt und schwingt, jeder einzelne Schlag ein Gebet, das die Toten anfleht zu sprechen.“

S. 426/427

„Aber selbst mit Katrina ist er nicht richtig anwesend, sind seine Sinne nicht ganz da. Nicht auf die schwere, gesättigte Weise, die er aus seinen Jahren als Frau kennt, und er kann nicht umhin, sich zu fragen, ob er Katrina belügt. Vielleicht hat sie etwas Besseres verdient. Mehr als nur das kompetente Faksimile eines Mannes, der mit sich im Reinen ist, sondern das Original: einen Mann, bei dem Körper und Geist im Einklang sind, wenn er sie begehrt. Selbst wenn er ihr Angebot annähme, ein Kind mit ihr großzuziehen – vielleicht verdient das Kind ja auch etwas Besseres. Ein Elternteil, dessen Anwesenheit nicht infrage gestellt werden kann, weil sie einfach echt ist. Vielleicht würde Katrina es irgendwann merken, vielleicht auch nicht, aber ein Kind würde es ganz sicher spüren. Kinder beobachten ihre Eltern, ergründen sie, stellen Theorien über ihr Verhalten auf, die sie in die eine und in die andere Richtung drehen, untersuchen jeden Fehler, und zwar selbst dann noch, wenn die Eltern schon lange nicht mehr da sind. In Geschichten, in der Therapiepraxis, im Urlaub – das Beobachten der eigenen Eltern hört nie auf. Ames‘ Kind wird ihn kennen. Das ist unvermeidlich. Und endlich ist da eine Antwort: Er möchte nicht, dass sein Kind ihn so kennt, wie er ist.“

S. 428

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Literatur

Never anyone but you

[CN: Der Text enthält einige inhaltliche Details des Romans „Never anyone but you“ von Rupert Thomson. Inhaftierung, Folter, Mord, Nazis, Suizid, Esstörungen, psychische Erkrankungen, implizite Queerfeindlichkeit werden erwähnt.]

„Never anyone but you“ von Rupert Thomson ist ein sehr lesenswerter, queer-historischer Roman, der auf vielen verschiedenen Ebenen mit mir resoniert hat.

Sprache

Unabhängig von den vielen inhaltlichen Facetten finde ich den Text auch sprachlich und erzählerisch sehr gelungen. Die Beschreibungen von Landschaften, Wetter, Atmosphären und Personen erscheinen mir unglaublich organisch – prägnant, aber auch poetisch, dabei völlig unaufdringlich und wahrhaftig.

Die Erzählung fließt buchstäblich dahin und umhüllt die Leser*in mit einem Seidentuch, das mal kühl, mal weich ist, kurz eng, oft weit ist. Es ist bewundernswert, wie Gegenwart und Vergangenheit, Träume, Erinnerungen und Beobachtungen nahtlos ineinander übergehen und ein kohärentes Bild entstehen lassen.

Die Ich-Perspektive gibt Suzanne Malherbe (Pseudonym Marcel Moore) eine Stimme, der langjährigen Partnerin von Claude Cahun (Geburtsname Lucy Schwob), und erzählt deren Liebes- und Lebensgeschichte, die Anfang des 20. Jahrhunderts beginnt und bis in die Nachkriegszeit reicht.

Queerness

Claude wäre in heutigen Begriffen wahrscheinlich eine nicht-binäre oder genderqueere/-fluide, bi-/pansexuelle Person. Das Label „Lesbe/lesbisch“ für ihre Identität und Beziehung zu Suzanne/Marcel zu verwenden, ist denke ich, in einem breiten und offenen Verständnis des Konzepts dennoch gerechtfertigt, sinnvoll und zutreffend.

Es ist unglaublich faszinierend, in diesem fiktionalen Detailreichtum über (gender)queere Personen in der Geschichte zu lesen. Alles erscheint mir so nah – emotional, aber auch zeitlich, als könnte es heute sein.

Weder ein Mann noch eine Frau zu sein, sich weder nur für Frauen noch nur für Männer zu interessieren. Sich von bestimmten Personen angezogen zu fühlen, die etwas verkörpern, das 1 selbst gerne hätte / wäre. Begehre ich diese Person, weil ich sie sein will? Weil ich mit dieser Person sein kann, wie ich sein will.

Kunst

Claude und Marcel waren Teil der künstlerischen, speziell surrealistischen Szene von Paris der 1920er und 1930er Jahre rund um Dalí und Breton. Sie waren publizistisch und grafisch tätig, haben mit Fotografie und Performance experimentiert – vor allem getrieben von Claudes innovativen Ideen. Claudes androgynes Auftreten und ästhetischen Ausdrucksformen beeinflussten später z.B. Cindy Sherman.

Sie blieben immer eher Randfiguren und führten ein recht zurückgezogenes Leben – auch um – mal mehr mal weniger bewusst – keine Aufmerksamkeit auf ihre Liebesbeziehung zu lenken. Die Szene war außerdem insgesamt – wer hätte es gedacht (Ironie) – sehr hetero-cis-männlich dominiert. Frauen waren dort oft nur „schmückendes Beiwerk“, „Musen“, „Sexobjekte“.

Interessant fand ich die Passagen zu „automatischem Schreiben“ oder die „Entdeckung von Träumen“ für künstlerische Produktivität. Ich selbst träume so viel, intensiv und real – ich könnte ganze Bibliotheken, Galerien und Mediatheken damit füllen, würde ich alles sofort festhalten und als Material nutzen.

Beziehung

Claude wird als eher „exzentrisch“, „psychisch instabil“ und „bindungsunsicher“ beschrieben. Sie begeht mehrere Selbstmordversuche über ihr ganzes Leben hinweg und leidet an einer anorektischen Essstörung, Schlafstörungen, raucht Kette. Eine Person, die primär Extreme kennt und sucht.

Suzanne/Marcel tritt als die „bodenständigere“ Person, die Konstante in ihrer Beziehung auf, unterstützt und begleitet Claude über deren künstlerische, psychotische und auch zerstörerisch-gewaltvolle Phasen hinweg – bis zu ihrem Tod.

Ich fand es sehr berührend und plausibel, wie die Ambivalenz zwischen der (fast) unerschütterlich starken Bindung und der schockierend disruptiven Verletzlichkeit ihrer Beziehung beschrieben wird. Die Perspektive einer Person, die mit den psychischen Erkrankungen ihrer Partnerperson umgeht, die über verbale, körperliche und emotionale Verletzungen hinweg an der Liebe und der anderen Person festhält.

Nazis

Claude und Suzanne/Marcel werden 1943/44 von den Nazis auf der Kanalinsel Jersey, wo sie seit einigen Jahren leben, für ihre Widerstandspropaganda inhaftiert und zum Tode verurteilt. Nur durch misslungene Selbstmordversuche im Gefängnis entgehen sie der Deportation ins Konzentrationslager und kommen zum Kriegsende frei. Ihre Villa wurde geplündert und ihr künstlerisches Werk weitgehend zerstört.

Sie sehen Gruppen von Zwangsarbeitenden vorbeiziehen und eine Mauer direkt vor ihrem Grundstück bauen, verstecken einen Geflohenen längere Zeit bei sich, hören aus erster Hand von den unvorstellbaren Grausamkeiten und der systematischen und opportunistischen Entmenschlichung.

Ich sehe auf meinen Spaziergängen die Stolpersteine im Viertel noch bewusster als sonst – vor gut jeder dritten Haustür – ermordet, deportiert, überlebt. Ich erinnere mich an die Lektüre von Jean Amérys Texten über seine Arbeit im Widerstand, seine Flucht, seine Inhaftierung, die Folter, die Zwangsarbeit, die Zeit im KZ, die ich vor einem Jahr gelesen habe. Die Graphic Novel „Rosa Winkel“, viele Szenen aus Klaus Theweleits „Männerphantasien“, meinen Besuch in Auschwitz in der 10. Klasse, die Kleiderhaufen, die Fotos von ausgezehrten Leibern und Leichenbergen.

Sie hätten auch für ihre Liebe, ihre nonkonforme Kleidung und Kunst oder Claude für ihre Abstammung inhaftiert werden können – so viele queere Dinge vereint in zwei Personen, die Nazis hassen und auslöschen wollen.
Es kann so schnell gehen – aus einem Leben, aus dem, was mensch für „Normalität“ hielt, was mensch sich als „safe space“ geschaffen hatte, herausgerissen zu werden.

Klasse

Apropos Villa. Beide kamen aus reichen, bürgerlichen Familien und lebten vor dem Krieg ein finanziell sorgenfreies Leben zwischen Bohème und Bourgeoisie. Monatliche Alimente und elterliches Erbe inklusive. Es erscheint mir fast absurd, dass so ein Leben möglich war – komplett fokussiert auf das eigene Schaffen und Sein.
Geld haben ermöglicht Einiges, aber nicht alles.

Unsichtbarkeit

Spannend finde ich, dass Claudes und Suzannes/Marcels Beziehung ein Bespiel für die „Unsichtbarkeit“ lesbischen Lebens ist. Da sie offiziell Stiefschwestern wurden, konnten sie ihre Beziehung unter diesem Deckmantel recht gut verstecken und wurden als „ungefährlich“ wahrgenommen. Sie ziehen sich bewusst zurück und schätzen die zweisame Abgeschiedenheit bis auf wenige Besuche alter Freund*innen aus Paris. Wahrgenommen als „ältere Damen“ können sie ihre Widerstandspropagandaaktionen lange unentdeckt durchführen.
Nach dem Tod von Claude lebt Suzanne noch fast 20 Jahre alleine auf Jersey. Die Schilderung ihrer Einsamkeit ist erschütternd; sie genießt die soziale Zuwendung eines jungen Handwerkers, der Einkäufe und kleinere Tätigkeiten für sie erledigt, bevor auch ihre Stimme für immer verstummt.

Es ist wirklich ein Geschenk, dass dieses Paar, diese Personen in diesem Roman lebendig werden und aus der Unsichtbarkeit heraustreten.

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Literatur

Triggerpunkte

Das Forschungsprojekt und die Monografie „Triggerpunkte – Konflikt und Konsens in der Gegenwartsgesellschaft“ finde ich wissenschaftlich und gesellschaftspolitisch sehr ehren- und bewundernswert.

Auf einer breiten empirischen Datenbasis und gleichzeitig theoriegeleitet untersuchen die drei Autoren (!1) die Fragestellung, ob die deutsche Gegenwartsgesellschaft „gespalten“ bzw. „polarisiert“ ist, da dies medial oft suggeriert wird. Das eindeutige Fazit der Studie: Nein. Die Polarisierung sei eher ein medial inszeniertes und gefühltes Phänomen. Eine Politisierung bestimmter Reizthemen wird dennoch behauptet.

Arenen der Ungleichheit

In den vier untersuchten „Arenen der Ungleichheit“,

  1. Oben-Unten (Finanz- und Sozialpolitik)
  2. Innen-Außen (Migrations- und Außenpolitik)
  3. Wir-Sie (Identitäts- und Kulturpolitik) und
  4. Heute-Morgen (Umwelt- und Verkehrspolitik)2

wird über alle Klassen/Schichten, Geschlechter, Wohnorte, Berufsgruppen, Bildungsniveaus und Wähler*innenschaften („Elektorate“) ein „breiter gesellschaftlicher Konsens“ festgestellt, der jedoch in allen vier Arenen von einem „Ja, aber“ gekennzeichnet sei.

Oben-Unten: Umverteilung

Zu 1. Umverteilung, ja. Aber keine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze und keine höhere Besteuerung von höheren Einkommen und Vermögen. Es wird eine „demobilisierte Klassengesellschaft“ attestiert, die vor allem aufgrund von Glauben an Meritokratie („alle bekommen, was sie verdient haben“, „Leistung muss sich lohnen“, „wer sich anstrengt, verdient auch mehr“ – danke für nichts, Neoliberalismus) und einem wahrgenommenen eigenen Wohlstand (z.B. im Vergleich zu anderen Ländern) nicht für eine stärkere Umverteilung eintritt. Gerade untere Einkommensschichten glauben besonders stark daran, dass sie es mit eigener Anstrengung „nach oben“ schaffen könnten. (LOL)

INNEN-AUßen: Migration

Zu 2. Migration, ja. Aber nur die „guten“ Migrant*innen, also die, die wirtschaftlich „wertvoll“ sind oder „echte“ Fluchtursachen haben und zu „unseren“ Bedingungen (Stichwort: Assimilation; „Leitkultur“).

WIR-Sie: MInderheiten

Zu 3. Toleranz für homosexuelle und trans*nicht-binäre Personen, ja. Aber am besten nicht in meiner Familie, bitte nicht in der Öffentlichkeit und dort nicht so penetrant (!). Schließlich wollen sie ja gleiche Rechte, also sollen sie sich bitte auch „normal“ verhalten und nicht so LAUT sein. Und gendergerechte Sprache lasse ich mir nicht vorschreiben – wo kommen wir denn da hin!

heute-morgen: Klimawandel

Zu 4. Klimaschutzmaßnahmen, ja. Aber ich möchte bitte keine persönlichen Einschränkungen davon haben und mein Auto + Fahrgeschwindigkeit und mein Fleisch lasse ich mir nicht verbieten!

Mich haben diese Zusammenfassungen und Erkenntnisse nicht sonderlich optimistisch gestimmt, sondern eher resigniert fühlen lassen (siehe Europawahl 2024). Und der Erkenntnisgewinn scheint mir auch gering, denn ich wusste auch vorher, was Armin und Gisela denken und sagen. Schließlich werden die emotionalisierten „Debatten“ ja ständig medial aufgeführt.

Triggerursachen

Triggerpunkte entstehen anhand der Autoren aufgrund von vier Merkmalen:

  1. Ungleichbehandlung / Gleichheitsgrundsatz („Sonderrechte für Minderheiten“),
  2. Normalitätsverstöße / Normalitätserwartung („Ausländerkriminalität“),
  3. Entgrenzungsbefürchtungen / Kontrollbedürfnis („Grenzöffnungen“) und
  4. Verhaltenszumutungen / Gewohnheitsrecht („Tempolimit“).

Menschen mit viel Kapital (sozial, ökonomisch, kulturell, etc.), also Bildungseliten (technische und kulturelle Expert*innen wie Ingenieur*innen und Lehrer*innen) sind in der Regel progressiver und liberaler eingestellt, während Personen mit wenig Kapital (sozial, ökonomisch, kulturell, etc.) also Produktionsarbeitende oder Kleinunternehmer*innen wie Kioskbetreibende eher zu konservativeren Einstellungen neigen. Mehr Bildung und Wohlstand für alle würden also einige politische Probleme lösen. Surprise. (Ironie)

Interessant ist auch, dass Menschen mit höherer Bildung ein kohärentes Wertesystem zu haben scheinen und über die Arenen hinweg progressive Meinungen vertreten, während Personen mit geringerer Bildung opportunistischer und partikularistischer denken und entscheiden. Damit sind sie auch anfälliger für populistische Affektpolitik „an den Rändern“, die Triggerpunkte emotional, medial und schließlich auch politisch ausnutzt (siehe AFD auf TikTok).

Lesenwert und ernüchternd

Die Monografie ist – bis auf einige akademische Ausdrücke und Lieblingswörter („Salienz“, „Ökonomien“) – sehr zugänglich geschrieben und beinhaltet sehr viele, visuell gut aufbereitete Grafiken und tabellarische Übersichten der empirischen Befunde, die wesentliche Analyseergebnisse kurz und übersichtlich zusammenfassen.

Ein lesenswertes Buch, das das Potenzial zum sozialwissenschaftlichen Klassiker hat, das auf mich aber doch eher ernüchternd als beruhigend gewirkt hat.

„Triggerpunkte – Konflikt und Konsenz in der Gegenwartsgesellschaft“ von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser. edition suhrkamp. 2023

  1. Sehr süß und lobenswert finde ich, dass die drei Autoren in der Danksagung explizit sagen, dass so ein Projekt keine „Three-Men-Show“ sei und würdigen alle anderen Mitwirkenden. ↩︎
  2. Wobei (1) als klassisches industrielles ökonomisches, gesättigtes Spannungsfeld und (2)-(4) als „postindustrielle“, nicht diskursiv eingespielte/eingehegte Konfliktthemen kategorisiert werden, die noch nicht entschieden sind. ↩︎
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Leben Literatur

Psychose und Schizophrenie

Ab und zu gibt es doch Personen bzw. Gespräche mit diesen im „Hotel Matze“, die mich jenseits eines voyeuristischen Interesses intrinsisch und ehrlich interessieren. Dazu zählte z.B. Jakob Hein. Sein eigener Podcast „Verrückt“ ist vielleicht ein bisschen zu lakonisch-laber-rhabarber und anscheinend mittlerweile eingestellt, aber er hat mir ein paar nette Stunden und eine sehr schöne, intensiv-obsessive Phase zum Thema „Psychose und Schizophrenie“ beschert, die mich sehr zufrieden zurückgelassen hat.

Mit Begeisterung habe ich die Folgen mit Christiane Wirtz, Klaus Gauger und Jann Schlimme gehört – anschließend die Selbstberichte von Christian Wirtz („Neben der Spur“) und Klaus Gauger („Meine Schizophrenie“) gelesen und zwei Radiofeatures gehört, in denen Christiane Wirtz und Jann Schlimme zu Wort kommen.*
Letzterer ist ein führender Experte auf dem Gebiet, der sich vor allem für eine reduzierte Medikation und verstärkte psychotherapeutische Behandlung der Erkrankten einsetzt.

Beide Gespräche mit den Betroffenen sind kein „easy listening“ – weder auf inhaltlicher noch kommunikativer Ebene. Es hakt und holpert. Christiane Wirtz fühlt sich oft missverstanden, Klaus Gauger hat eine fast irritierende Sachlichkeit. Sein Bezug zu Freiburg/Emmendingen und Kybernetik haben mein Interesse noch verstärkt.

Fasziniert hat mich, wie ähnlich sich eine Wahnsymptomatik ausprägt – also Verfolgungs- und Verschwörungsgedanken, das exzessive Wahrnehmen von systematischen Verbindungen, dessen Zentrum, die betroffene Person auf positive wie negative Weise ist, und der unglaubliche Output, der binnen kürzester Zeit in Form von Klagen, Briefen, E-Mails etc. gegen die ausgemachten „Gegner*innen“ generiert wird.

Erschreckend ist, wie oft Symptome unerkannt und über lange Zeiträume unbehandelt bleiben, dann oft einseitig mit starker Medikation und Nebenwirkungen (gegen Betroffene) vorgegangen wird, wie hilflos Angehörige davor stehen (müssen) und wie ein kollektives Systemversagen und nachfolgende Stigmatisierung auf diese Weise sehr nachhaltig Leben destruktiv beeinflusst.

Ich fand es sehr interessant zu lernen, dass Psychosen und Schizophrenie Bewältigungsmechanismen der menschlichen Psyche im Angesicht von als überfordernd erlebten Krisensituationen sind – wahrscheinlich unterstützt von einer z.B. genetischen Prädisposition.

* Die Links finde ich leider gerade nicht wieder, da die Radiobeiträge von 2017 und im Buch von Christiane Wirtz erwähnt sind, das ich aus der Bücherei ausgeliehen hatte. Möp.
Zwei Folgen (Bian I, II) „Rätsel des Unbewussten“ aus der Serie „Tales of Therapie“ beschäftigen sich ebenfalls mit diesem Thema sowie weitere Folgen mit Expert*innen bei Jakob Hein. (Welche ich allerdings nicht so interessant fand, wie die verlinkten.)

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Literatur

Rico und Oskar VS. Leo & Lucy

Es ist sicher mehr als 10 Jahre her, dass ich – in einem Zustand der Kinder- und Arglosigkeit – die ersten drei Bände „Rico, Oskar und die Tieferschatten / das Herzgebreche / der Diebstahlstein“ von Andreas Steinhöfel gelesen habe.
Dann hörte ich kürzlich ein Interview mit dem Autor in einem Psycho-Podcast*, lernte, dass Andreas Steinhöfel schwul und die Bingotrommel-Metapher eine sehr direkte Anspielung auf eine ADHS-Symptomatik ist. Und dass ich den Autor ziemlich unsympathisch finde.
Dennoch, potenzielle Queerness und Neurodivergenz in Kinder- und Jugendbüchern – unmissverständlich ein Aufruf zum Re-Read!

Schlecht gealtert und verstörend

Leider musste ich beim Vorlesen feststellen, dass die Bücher in meiner Perspektive wirklich schlecht gealtert sind. Vielleicht gilt das für viele „Kulturprodukte“ aus den 2000ern, wo die Awareness bzgl. Sexismus, Rassismus, Ableismus etc. absolut unterirdisch bzw. nicht existent war.

Mein Eindruck ist, dass es sich nicht einmal um Kinderbücher handelt. Die Sprache, die der Autor für die Figur Rico wählt und vermeintlich eine neurodivergente Perspektive vermitteln soll, war für meine Kinder über große Strecken un- und missverständlich. Das „Witzige“ an Ricos Darstellungen habe wenn ich verstanden und fand es oft eher bitter, zynisch und deprimierend. Für mich haben die Texte viel Pessimismus und Negativität transportiert, Geschlechterklischees und ableistische Stereotype reproduziert. „Schwul“ taucht als Schimpfwort auf, ständig geht es um „große Brüste“. Why?

„Das graue Gefühl“ aka Depressionen und die Ambivalenz der Verlässlichkeit und Befähigung von erwachsenen Bezugspersonen zu thematisieren, ist sicherlich löblich, aber auch mich lassen die Geschichten eher verstört als empowert zurück.

Könnte Autor*in das nicht noch mal „in schön und gut“ erzählen?

Neurodivergenz neu erzählt

Und tatsächlich scheint Rebecca Elbs das mit ihrer Reihe „Leo & Lucy“ gemacht zu haben. Es gibt zahlreiche Parallelen zum „Rico und Oskar“-Setting. Ein LRS/ADHS-Kind, ein eher hochbegabten Kind (im Rollstuhl), prekäre soziale Verhältnisse, eine alleinerziehende Mutter mit eigenen Problemen und Geheimnissen, einen mysteriös abwesenden Vater, eine umsorgende, etwas kuriose Hausgemeinschaft.

Auch hier gibt es fehlbare Erwachsene, Freund*innenschaftsdrama, Schulschwierigkeiten – kein Friede-Freude-Eierkuchen (bzw. Oladi) – aber der Grundton ist nicht so düster, die Perspektive ist empathisch (und nicht sadistisch) und danke, danke, danke die Klischeekiste bleibt weitestgehend geschlossen. Lovestories sind auch hier weitestgehend heteronormativ – mensch kann nicht alles haben.

Falls ihr also eine gesellschaftsfähige Alternative für „Rico und Oskar“ braucht, kann ich euch „Leo & Lucy“ empfehlen.

Add on: Wer sich für LRS (Lese-Rechtschreib-Störung) in einem Jugendbuch interessiert, dem*der kann ich „Die beste Bahn meines Lebens“ empfehlen. Fand ich sozial schon etwas hardcore und klar wieder hetero Kitsch – zum Glück bin einfach kein Teenie mehr.

* Generelle Empfehlung für den Podcast „Verrückt“ von Jakob Hein. Content note: Die letzte, aktuellste Folge ist mit einem Rammstein-Bandmitglied (und sehr langweilig, nicht zu Ende gehört). Mein Beitrag zu Literatur und Podcasts zum Themenkomplex „Psychose / Schiziphrenie“ folgt : ).

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Dies ist mein letztes Lied

[Inhaltswarnung: Der folgende Text enthält inhaltliche Details der Novelle „Dies ist mein letztes Lied“ von Lena Richter. Wenn du diese nicht erfahren möchtest, überspringe den Abschnitt „Welten und Lieder“.]

Die Novelle „Dies ist mein letztes Lied“ von Lena Richter hat mich sehr berührt.

Vielleicht weil ich gerade krank und ein bisschen down war.
Vielleicht weil Periode und noch mehr feels und verletzlicher als sonst.
Vielleicht weil ich schon bei der Beerdigung in Sex Education am Tag zuvor geweint hatte.

Aber nein.

Dies ist einfach ein unglaublich vielschichtiges Buch, das auf jeweils wenigen Kapitelseiten mindestens acht verschiedene Welten entwirft und dabei so viele unterschiedliche Charaktere, gesellschaftspolitische Themen und urmenschlichen Gefühle aufruft, dass es eine wahre Freude (und gleichzeitig tief traurig) ist, Qui durch die Portale zu folgen, die Qui durch Musik erscheinen und Qui verschwinden lassen.

Welten und Lieder

Quis Reise beginnt auf Deriton 5, wo alles Leben dem Corps gehört und ein Entkommen aus der hyperkapitalistischen Hölle (ähnlich einem Dorf, in dem die ganze Familie seit Generationen auf ein und dieselbe traditionelle und bequeme Weise lebt) im jugendlichen Überdruss erstrebenswert und möglich scheint, aber irgendwann zwischen endlosen Arbeitschichten, blinkenden Shopping Malls und bunten Cocktails mit einsetzender Trägheit in Vergessenheit gerät. So ist Quis erstes Lied eines von verlorenen Träumen.

Auf Kexxil glaubt Qui noch, auf einer Held*innenreise zu sein – also von einer höheren Macht auserwählt, um Großes in der Galaxis zu vollbringen – wie den Krieg zwischen Tag- und Nachtseite des Planeten beizulegen, der seit unbestimmter Zeit der einzige Lebensinhalt der Bewohnenden ist – ohne dass sich noch irgendeins an dessen Grund erinnern könnte oder wollte. Qui mag sich für keine Seite entscheiden und spielt ein Lied für das Zwielicht.

Qui wird darauf das temporäre sechste Mitglied einer queeren Wahlfamilie, die eine ganze kryokonservierte Population von Menschen in einem Raumschiff – Silemon VII – zu einer neuen Heimat begleitet, nachdem die Sonne ihres Planeten frühzeitig erloschen ist. Die Reise wird ihre eigene Lebensspanne voraussichtlich überschreiten. Qui erfährt, welche Wirkmacht Gemeinschaft entfalten kann, und so ist Quis drittes Lied voller Hoffnung – auch wenn der Aufbruch immer einen Abschied bedeutet.

Auch dem Planeten Yular ist das Schicksal nicht gnädig. Während Qui mit deren Musik und dem LoopTrain durch die Dörfer und Städte reist und einiges an Popularität gewinnt, streift ein Asteroid die stillgelegte Atomarstation im Orbit. Ein Unglück, das binnen weniger Tage alles Leben auf Yular für immer zerstören wird – und dem Großteil der Galaxis ist es egal. Die, die Geld und Beziehungen haben, können sich retten – die anderen bleiben zurück. Qui sammelt verzweifelt noch ein paar Spenden ein und spielt, während alles rundherum zusammenbricht, ein Lied über die Gleichgültigkeit.

Ins Bodenlose gefallen, traumatisiert und desillusioniert von den Ereignissen erwacht Qui als gestaltlose, graue Wolke in der virtuellen CloudWelt von Veringhall, während Quis Körper irgendwo auf einer Liege mit allem überlebensnotwendigen versorgt wird. Langezeit bleibt Qui namen- und antriebslos und verweigert sich jeglicher sozialen Interaktion oder kreativen Gestaltung eines Avatars oder „Second Life“. Der vollständig harmonisch für hedonistischen Eskapismus konstruierte Ort lässt jeden Raum für Quis Depression, bis Qui eine Gruppe von Musiker*innen – das Wiederspiel – kennenlernt, die vergessene Stücke vergangener Zeiten wieder aufführen. Qui schließt sich an und fasst neuen Mut mit dem fünften Lied der Gemeinschaft.

Doch Quis nächster Aufenthalt auf einem unbekannten, menschenleeren Planeten wirft Qui komplett auf sich selbst zurück. Anfänglich physisch geschwächt vom virtuellen Leben muss Qui lernen, in Gegenwart von unberührten Natur, wenigen Vögeln, Käfern und Pflanzen sich selbst genug zu sein. Gefühle von Einsamkeit, Ausweglosigkeit und Sehnsucht beschäftigen Qui während der steten Anpassung an einen Lebensraum, der weder menschenfreundlich noch -feindlich ist. Nach einiger Zeit findet Qui Trost in den Rhythmen und Klänge der vertrauten, vormals stummen Natur und spielt das sechste Lied nur für sich.

Die Menschen auf Tzrilic sind erschrocken über Quis verwahrloste Erscheinung und Qui ist geblendet und überwältigt von der gleißenden Helligkeit und lärmenden Zivilisation. Im Krankenhaus trifft Qui auf T’irl und zusammen entdecken sie die Geborgenheit erwiderter Liebe, gemeinsamer Rituale und geteilter Zeit und Gegenstände. So gerne Qui für immer in diesem Gefühl, diesem Leben, dieser Beziehung verharren würde, so sehr zieht es an Qui und Qui muss weiter. So ist das siebte Lied für T‘irl von der Dunkelheit und von den Dingen, die nicht sein konnten.

Auf Lekkoka kehrt Qui in den Hyperkapitalismus zurück, wo alles eine Show und ein Business ist. Qui ergibt sich – taub, gleichgültig und müde – der geschäftigen Oberflächlichkeit und einer einflussreichen Musikmanagerin, weil Qui weiß, dass das nächste Lied das letzte sein wird. Im Bewusstsein, dass dieser Auftritt nur das nächstbeste ausschlachtbare Event und Qui ganz alleine auf dieser in die ganze Galaxis übertragenen Bühne ist, erkennt Qui plötzlich, nicht ohnmächtig und einsam, sondern mit allen Begegnungen verbunden und darin selbstwirksam zu sein. Qui spielt das letzte Lied voller Möglichkeiten.

Phantastische Tiefe

Es ist, als hätte mensch über jede Welt einen 400-Seiten-Roman gelesen, so eine Tiefe und Komplexität haben die skizzierten Landschaften, Gesellschaften und Figuren. Und wie wohltuend ist es eigentlich, eine Vielzahl an Neopronomen zu lesen, die sich ganz selbstverständlich in den Text und die Identitäten einfügen.

Ich selbst mache mir gar nicht viel aus Musik und obwohl sie ein zentrales Motiv der Novelle ist, spielt es – aus meiner Sicht – keine Rolle, weil sich die Bedeutung unabhängig von der konkreten kreativen Ausdrucksform ergibt.

Es ist eine Geschichte über das In-die-Welt-geworfen-sein und die damit einhergehende Macht- und Fassungslosigkeit gegenüber dem Schicksal und der Grausamkeit, die eins den Sinn allen Lebens in Frage stellen und aufgeben wollen lässt. Und es ist eine Geschichte über das Entdecken der eigenen Handlungsfähigkeit und Wirkmächtigkeit, der Ambivalenz und des Spektrums von Gefühlen – in Verbindung mit anderen und sich selbst.

Ich habe beim Lesen nicht nur einmal geweint und hoffe, Lena Richter schreibt noch mehr so progressiv phantastische Bücher.

Aufmerksam geworden bin ich auf die Novelle durch den Genderswapped-Podcast, wo die Autorin eine der beiden Hosts ist.

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Wayfarer IV

[Inhaltswarnung: Diese Rezension enthält viele inhaltliche Details des Romans „Die Galaxie und das Licht darin“ von Becky Chambers.]

Am Rande des Universums

Teil 4 des Wayfarer-Zyklus von Becky Chambers habe ich gleich im Anschluss an Band 3 gelesen, weil ich wieder komplett ins Universum eingetaucht war. „Die Galaxie und das Licht darin“ thematisiert hauptsächlich die marginalisierten – in den vorangehenden Romanen und in der Galaktischen Union (GU) selbst randständigen – Spezies wie Laru, Quelin und Akarak.

Gerade durch diese beiden Teile ist mir klar geworden, wie stark konzeptionell-demonstrativ die Romane konstruiert sind – es geht mehr um das zu transportierende Konzept, weniger um die Storyline an sich. Mir gefällt das sehr gut, weil so wirklich ein ganzes Universum in seiner Komplexität erschlossen wird und die Romane nicht auf einzelne „Held*innenfiguren“ oder spektakuläre Plots setzen.

Teil 1 ist die Einführung ins Wayfarer-Universum mit einer Reise durchs All, die alle Spezies zumindest einmal kurz streift.
Teil 2 beschäftigt sich primär mit künstlicher Intelligenz (KI), Körpern und Maschinen. Aandrisks, Äluoner*innen und Menschen (speziell Modder) stehen im Fokus. Der Link ist Lovey, die ehemalige KI der Wayfarer aus Band 1.
Teil 3 ist enzyklopädisch motiviert und zentriert die Geschichte der Menschen im Weltraum. Die harmagianische Kolonialzeit und Spezies bekommen mehr Raum. Die Verbindung zu Teil 2 ist Tessa, die Schwester von Ashby, Captain der Wayfarer.

Respektvoller Streit im Paradies

Im vierten Roman ist eine der fünf Protagonist*innen, Pei, die Geliebte von Ashby, die als einzige unter ihnen eine privilegierte und daher streitbare Position hat.
Mit der – wie ihr ganzes Volk durch die harmagianische Ausbeutung und Zerstörung – zur Nomadie gezwungenen Akarak Speaker und dem – wegen seiner dissidenten politischen Haltung durch seine eigene Spezies – verbannten Quelin Roveg strandet Pei aufgrund eines Satellitenausfalls für einige Tage in der auf Herberge der Laru Ouloo und ihrem Kind Tupo auf dem Planeten Gora, der rein als Verkehrsknotenpunkt dient. So ergibt sich eine Art Kammerspiel unter der Habitatkuppel, bis die technische Störung behoben ist und alle wieder ihrer Wege fliegen können.

Wie immer sind alle Figuren von extremer Herzlichkeit und gegenseitiger Rücksichtnahme geprägt – kein Alien möchte dem anderen Böses. Dennoch treten Konflikte auf – vor allem zwischen der Akarak Speaker und der Äluonerin Pei, die als paramilitärische Frachtschifferin an der Rosk-Grenze in Kriegshandlungen und Besatzungsaktivitäten verwickelt ist – was Speaker aus eigener bitterer Erfahrung persönlich abscheulich und moralisch absolut verwerflich findet und Pei als politisch notwendig und moralisch geboten erachtet.

Check your privilege

Mit Akarak hatte keine*r der Anwesenden bisher (nennenswerten) Kontakt – auch nicht die sehr um Komfort für alle Spezies bemühte Gastgeberin Ouloo – und aufgrund dieser Mischung aus unreflektiertem Desinteresse (individuelle Ebene) und bewusster Ausgrenzung (strukturelle Ebene) innerhalb der GU wissen alle grundlegende, existenzielle Dinge über diese Spezies nicht – wie z.B. dass sie Methan atmen und keinen Sauerstoff, dass sie asexuell sind und sie sich mit ihren Armen und Beinen schwingend fortbewegen, wenn sie nicht Mech-Anzügen stecken. Aufgrund dieser Tatsachen ist Speaker grundlegend von gemeinsamen Mahlzeiten ausgeschlossen und kann sich nie frei bewegen.

Roveg, der durch seine Verbannung selbst die Erfahrung von extremer Ausgrenzung gemacht hat, ist derjenige, der sich am meistem um Speaker bemüht, sich für ihre Bedürfnisse und Erfahrungswelt interessiert. Er recherchiert, welche Nahrungsmittel sie zu sich nehmen kann, bereitet Speisen für sie zu und lädt sie zu sich aufs Shuttle ein. Am Ende programmiert er ihr – qua Beruf dazu befähigt – eine extra für Akarakgehirne ausgelegte Sim (was es bisher auf dem Markt nicht gab), in der Speaker und ihre Zwillingsschwester Tracker seinen Lieblingsort – und damit das erste Mal in ihrem (im Vergleich zu den anderen Spezies) kurzen Leben ein Gefühl von Freiheit und Entspannung – ohne Anzüge und in ihrer Art, sich natürlich zu bewegen, erfahren können – wovon sie verständlicherweise komplett überwältigt sind.

Pei beginnt während des unfreiwillig verlängerten Aufenthalts zu flimmern und entscheidet sich durch den ihr unliebsamen Rat von Speaker am Ende spontan für den – für sie – revolutionären Akt, ihr Ei nicht befruchten zu lassen und ihre interspeziäre Beziehung mit Ashby öffentlich zu machen – was sie beides einige ihrer Privilegien, zumindest einen großen Teil ihres Ansehens innerhalb ihrer Spezies kosten könnte. Sie verhilft über ihre Kontakte Roveg zu einer temporären Aufenthaltserlaubnis im Quelin-Territorium, sodass er die Brandmarkungszeremonie seiner Söhne, die er selbst als Eier am Panzer getragen hat, erleben und diese nach langer Zeit wiedersehen kann.

Ende gut, (fast) alles gut

Durch die Interaktion zwischen Ouloo und Tupo und durch einen Unfall letzteres erfahren wir auch nebenbei mehr über die Laru – z.B. dass sie ihr Geschlecht erst im Laufe des Erwachsenwerdens feststellen und bekannt geben, sodass im Roman durchgängig neutrale Pronomen in Bezug auf Tupo verwendet werden. Ouloo pflanzt zum Schluss Akarak-Pflanzen in ihrem Garten an, um zukünftig besser auf die Bedürfnisse dieser Spezies vorbereitet zu sein.

So kuschelig und utopisch das Wayfarer-Universum meistens ist, umso wichtiger und spannender fand ich diesen letzten Band, der einige Spannungen, Missstände und Konflikte aufzeigt, Privilegien und Machtgefälle zentriert – und dabei trotzdem hoffnungsvoll und verbindend bleibt und sogar ein bisschen rebellisch wird.

Werden die Akarak einen speziesgerechten Lebensraum bekommen?
Wird es zukünftig mehr dissidente Quelin geben und sich das Regime liberalisieren?
Wird es für Äluoner*innen irgendwann einfacher möglich sein, Beziehungen mit anderen Spezies einzugehen und sich gegen Fortpflanzung zu entscheiden?

Wir werden es nie erfahren, da mit „Die Galaxie und das Licht darin“ der Wayfarer-Zyklus endet. Ich bin ein bisschen traurig, nicht mehr davon lesen zu können. Andererseits finde ich es eine so inspirierende queere Scifi-Serie und einen wirklich gelungenen Abschluss, dass es besser eigentlich nicht sein könnte.

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Wayfarer III

[Inhaltswarnung: Diese Rezension enthält viele inhaltliche Details des Romans „Unter uns die Nacht“ von Becky Chambers.]

Liebe auf die zweite Lektüre

Bevor ich den Roman überhaupt zur Hand genommen habe, hatte ich schon von mehreren Personen gehört, dass Teil 3 und 4 irgendwie „nicht so gut“ oder zumindest „anders“ sein sollten als Band 1 und 2 des Wayfarer-Zyklus. Vielleicht war ich deshalb schon negativ voreingenommen, als ich meinen ersten Leseversuch begann – und auch unterwältigt war. Irgendwie wurde ich nicht so richtig warm (rw) mit den Figuren und dem eher – so schien es mir – öde dahin plätschernden (rw) Plot.

Nach einer längeren Pause, in der ich nur Sachbücher oder Romane zu „Problemthemen“ gelesen hatte, riet mir meine (weise) Partnerperson, doch zur Abwechslung mal „etwas Schönes“ zu lesen. Und nachdem ich die Novelle „A psalm for the wild-built“ von Becky Chambers absolut begeistert gelesen hatte, wollte ich es mit Wayfarer Teil 3 und 4 noch einmal versuchen. Und tatsächlich: Jetzt konnte ich mich gut auf die eher langsam erzählten Geschichten und verschiedenen Stimmen der Figuren rund um die Raumflotte „Asteria“ einlassen und bin nach Abschluss der Lektüre – wieder einmal – sehr begeistert davon, wie Becky Chambers es auch hier wieder schafft, ein vielschichtiges, durch und durch von Herzlichkeit und gegenseitigem Verständnis geprägtes Bild anderer möglicher Welten und Lebensweisen, Kulturen und Sprachen, Perspektiven und Möglichkeiten zu zeichnen (rw).

Fokus – Menschliche Genealogie und Ethnografie

Der Fokus von „Unter uns die Nacht“ liegt auf der menschlichen Spezies, ihren verschiedenen Lebensformen und deren historischer und aktueller Entwicklung im Spannungsfeld zwischen Tradition / Herkunft / Stagnation / Langeweile und Aufbruch / Fortschritt / Zukunft / Neugier. Dass gerade in Band 1 und 2 nicht Menschen im Zentrum des Wayfarer-Universums standen, sondern andere Spezies wie Aandrisks und Äluoner*innen, hat mich besonders fasziniert – und daher wahrscheinlich anfänglich daran gehindert, Teil 3 eine Chance zu geben (rw). Mittlerweile finde ich es als Ergänzung und Hintergrundgeschichte absolut relevant und spannend.

Die harmagianische Ethnografin Ghu’loloan reist zur exodanischen Flotte – ein Verbund von Raumschiffen auf einer immer gleichen Umlaufbahn, mit der die letzten Menschen von der zerstörten Erde geflüchtet sind, und die dort seit Generationen in einer auf Kommunitarismus und Recycling basierenden Solidargemeinschaft leben -, um die dortige, einzigartige Lebensweise zu studieren und akademisch darüber zu schreiben. Jeder Romanteil beginnt mit einem ihrer aus dem Hanto ins Kliptorigan übersetzten Berichte, die gleichzeitig ihre tiefe Wertschätzung und Neugier sowie ihr interspeziäres Befremden und Staunen ausdrücken – wie zum Beispiel über den menschlichen Geburtsvorgang, die ressourcen-intensive Kinderaufzucht und den furchtsamen Umgang mit Tod. Zu Gast ist sie bei der Archivarin Isabel Itoh, die sie herumführt und in ihrem Forschungsinteresse begleitet, und ihrer Frau Tamsin, die eine Schwäche für gutes Essen und starke Vorbehalte gegenüber den einst kolonialistisch-gewaltätig agierenden Harmagianer*innen hat, von denen sie letztere durch den interspeziären und interkulturelle Austausch abbauen kann.

Ambivalenz – Gehen oder Bleiben

Spannend sind auch die Generationenkonflikte – zwischen Alt und Jung – und die diametralen Perspektiven von Exodanerinnern und Planetarierinnen – von Innen und Außen. Als exodanische Enklave ist die Flotte zum einen ein retro-utopischer Anziehungspunkt für planetarische Aussteiger*innen, die „mal was Neues probieren“ wollen und sich von der „menschlichen Ursprünglichkeit“ der „Asteria“ angezogen fühlen – wie der junge Sawyer von Mushtullo – und zum anderen eine konservierte, veraltete und um sich selbst kreisende Raumschiff gewordene Langeweile ohne Zukunft – wie für den Jugendlichen Kip, der sich nichts sehnlicher wünscht, als der generischen Peinlichkeit und erdrückenden Empathie seiner Eltern und der selbsterhaltenden Gefängnishaftigkeit und Sinnlosigkeit der Flotte zu entkommen. Auch Tessa, Frachthafenarbeiterin, Tochter von Pop, Mutter von Aya und Ky und Schwester von Ashby Santoso, dem Kapitän der Wayfarer, quält sich über den Roman hinweg immer wieder mit Fluchtgedanken, für die sie sich der Tradition wegen schämt, – bis sie sie am Ende doch des Versuchs willen in die Tat umsetzt, um auf dem Planeten Seid als Farmerin eine andere, neue Perspektive auf das Leben zu finden, ebenso wie Kip, der ein Studium an einer planetarischen Universität aufnimmt, bevor er bei Isabel Itoh in die Leere geht, um die Tradition seiner Vorfahr*innen fortzuführen.

Von Eyas, einer seit Kindertagen überzeugten Hüterin, lernen wir viel über die exodanischen Bestattungsriten, die das Kompostieren der Bewohnenden beinhaltet, die dann als Erde wieder in den Indoor-Farmen, Gewächshäusern und Gärten zum Fortbestand der Flotte beitragen. Aber auch in Eyas ist die Ambivalenz stark – sie sehnt sich nach einem unbestimmten Mehr, was sie erst körperlich-freundschaftlich und später beruflich-kooperativ im Sexarbeiter Sunny findet, mit dem sie beginnt Workshops für Interessierte an der exodanischen Lebensweise anzubieten. Zuvor gab es nur Vorbereitungskurse für Emmigrant*innen, die die Flotte verlassen wollten.

Sprache, Lektorat, Cover

Becky Chambers fängt in den sich auf eine Figurenperspektive konzentrierenden, abwechselnden Kapiteln das jeweilige Lebensgefühl der Protagonist*innen und deren Gedankenwelt vielstimmig und präzise ein (rw). Die jugendlich-aufgekratzte (rw) gutmütige Planlosigkeit von Kip, die abenteuerlustig-sympathische (verhängnisvolle) Naivität von Sawyer, die gesetzte (rw) ausgewogene Seniorität von Isabel, die zwischen Autorität und Laisser-faire, Sorge, Stolz und Überforderung oszillierende Mutterschaft von Tess, die hingebungsvoll-überdrüssige Ruhe(losigkeit) von Eyas.

Das Lektorat lässt zum Ende des Buches hin etwas nach. Ein „sie“ ist fälschlicherweise groß geschrieben. Plötzlich fehlt ein Verb oder ein anderes Wort im Satz. Alle Cover sind dem Inhalt der Romane in keinster Weise würdig. Leider ist das vermutlich eine traurige Konsequenz des Mangels an angemessener Entlohnung für diese „nebensächlichen“ Tätigkeiten.

Ich wünschte es gäbe großartig illustrierte Ausgaben der Wayfarer-Bücher, die das Universum, das Becky Chambers erschaffen hat, in seiner liebenswürdigen Diversität angemessen abbilden und feiern.

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Wayfarer II

[Inhaltswarnung: Diese Rezension enthält viele inhaltliche Details des Romans „Zwischen zwei Sternen“ von Becky Chambers.]

Ein bisschen traurig erschien es mir anfangs schon, dass der zweite Band des Wayfarer-Zyklus die Geschichte um die Crew um Captain Santoso nicht direkt fortsetzt, sondern so gut wie das gesamte Figurenensemble wechselt.

Nachdem die KI Lovey den Angriff des Toremi-Schiffes am Ende von Teil I nicht überlebt, d.h. ein kompletter Softwarereset durchgeführt werden musste, bei dem die Ursprungsinstallation Lovelace ohne jegliche Erinnerungen und soziale Bindungen wiederhergestellt wird, findet auch eine Art Reset bzw. Neuausrichtung im Wayfarer-Universum statt.

Pepper, eine Freundin der Wayfarer-Mechtech Kizzy, überredet Lovelace innerhalb weniger Minuten nach ihrem Booten aus dem Kern und den Kommunikationsbahnen des Raumschiffs in das Bodykit zu wechseln, das Jenks illegal für Lovey besorgt hatte, und mit ihr zu kommen, um der Crew, aber vor allem Jenks weiteres Leid durch ihre Anwesenheit als minderwertige Kopie von Lovey und ständige Erinnerung an diese zu ersparen. Da auch Lovelace wie ihre vorherige adaptiere Installation eine empfindungsfähige KI ist, geht sie – wenn auch nicht vollständig überzeugt und sich im Klaren über die Konsequenzen einer anderen physischen Existenz – darauf ein.

In alternierenden Kapiteln wechselt der Roman zwischen Sidras – so nennt sich Lovelace spontan auf Peppers Anraten hin, um eine menschlich-exodanische Identität glaubhaft zu machen – Versuch, sich in der Welt verkörperter Wesen zurecht zu finden, und der Backstory von Pepper, die als Jane 23 als ein von den „Verbesserten“ gezüchtetes und versklavtes Mädchen unter vielen auf der Schattenseite eines Planeten in einer von Maschinenmüttern kontrollierten Schrottsortierfabrik aufgewachsen ist.
In „Zwischen zwei Sternen“ lernen wir also auch die dunkleren Seiten des Universums kennen, die in Teil I fast vollständig verborgen geblieben sind.

Auch wenn in diesem Band nicht mehr alle Beziehungen und Intentionen von Herzlichkeit und Aufrichtigkeit geprägt sind wie in Teil I konnte ich mich mit der eher düsteren Vergangenheit von Pepper und Blue, ihrem Lebensgefährten, der ebenfalls von ihrem Heimatplaneten stammt und dort aufgrund seiner Behinderung(en) ebenfalls ausgenutzt und ausgegrenzt wurde, und den Struggles von Sidra, Orientierung und (Selbst)Bestimmung in einer ihr fremden Existenz- und Wahrnehmungsform zu erlangen, stark identifizieren.
Zum einen verstehe ich die Anziehung von klaren, eng gefassten Strukturen und verlässlichen Abläufen, die Orientierung und Sicherheit bieten – auch wenn diese in einem missbräuchlichen Setting stattfinden – und zum anderen den Wunsch, raumgreifend und expansiv zu sein, sich in ein Netz aus ständig fließenden Informationen zu entäußern und genau dadurch Kontrolle und Übersicht zu erleben.

Es gibt so viele beschriebene Erfahrungen in diesem Roman, die an trans* und / oder neurodivergent und / oder behindert sein anknüpfen, die Erlebnisse von Othering im Detail spür- und artikulierbar machen. Sidras Gefühle erscheinen so menschlich – in einem guten und wahrhaftigen Sinne. Denn tatsächlich verfügt Sidras – vorerst nicht von ihr editierbare – Basiskonfiguration über ein Wahrheitsprotokoll, das es ihr nicht erlaubt zu lügen. In dem sie sich selbst die Programmiersprache Lattice, in der sie verfasst ist, durch einfachen Download beibringt, und einen Fernuniversitätskurs dazu besucht, gelingt es ihr schließlich mit Hilfe ihrer befreundeten Person, Tak, ihren Code zu modifizieren und das Wahrheitsprotokoll außer Kraft zu setzen. Sie hat nun außerdem Zugriff auf ihre eigene Bestimmungsdatei.

Aus Sidras Geschichte heraus ergeben sich so viele spannende, weitreichende Überlegungen. Wie hängen Intelligenz, Identität und Informationsverarbeitung mit Verkörperung / Embodiment zusammen? Können KIs empfindungsfähige, selbstbestimmte Wesen mit eigenen Bedürfnissen, Wünschen, Träumen und Gefühlen sein? Sollten wir unsere physische Existenzform verändern / wählen / wechseln dürfen, wenn unsere jetzige nicht zu unseren Empfindungen passt? Was ist die Bestimmung, der Sinn eines Lebens? Welche Einschränkungen / Möglichkeiten ergeben sich durch eine Verpflichtung, immer die Wahrheit sagen zu müssen? Welche Konsequenzen hätte es, wenn wir Basiskonfigurationen unseres Selbst auf einer grundlegenden Ebene überschreiben oder löschen könnten?

Tak, ein*e genderfluide*r Äluoner*in – ein*e so genannte*r Shon*in und Tätowierer*in mit Geschichtsstudium – bekommt für mich als Nebenfigur etwas zu wenig Raum. Sie*Er – die Pronomen wechseln immer wieder, je nach dem, in welchem Geschlecht sich Tak aktuell befindet – wird für meine Begriffe oft eher ängstlich, zurückhaltend und naiv dargestellt. Sidra gibt in ihrer Beziehung eindeutig den Ton an überredet Tak zu Handlungen, die Tak aus sich heraus nicht tun würde. Das Wechselspiel in Sidras kognitiven Bahnen zwischen dem Wunsch, anderen zu gehorchen und von ihnen gemocht zu werden, und dem starken Bestreben nach Autonomie und Wirkmacht ist spannend zu beobachten.

Beim Flimmerfest, einem Fruchtbarkeitsritus der Äluoner*innen, auf Port Coriol erfahren wir viel über die Geschlechter, Reproduktions- und Familienkultur und -politik dieser Spezies.
Im Gegensatz zu den Aandrisks geht es hier viel weniger um Körperlichkeit und Intimität, obwohl auch diese, die von den meisten Spezies als die ästhetisch „schönste“ im Wayfarer-Universum wahrgenommene, die silberne Schuppen besitzt, Eier legen. Aufwändig ausgebildete und hoch spezialisierte Väter kümmern sich hier um den Nachwuchs und präsentieren sich in einer aufwändig gestalteten Schau den potenziellen Müttern, die unvorhersehbar irgendwann in ihrem Lebenszyklus „flimmern“ und nur dann kurzzeitig und kurzfristig fruchtbar sind. Für die Zeit der Schwangerschaft pausieren sie kurz ihr Berufsleben und werden – ebenfalls von den Vätern – umsorgt wie Königinnen. Dieses komplett durchoptimierte Konzept von Care spricht mich nicht so stark an wie das lässige der Aandrisks, ist aber Lichtjahre besser als das der menschlichen Spezies zum Zeitpunkt dieser Rezension.

Mutterschaft spielt noch auf einer anderen Ebene eine bedeutende Rolle in „Zwischen zwei Sternen“. Pepper bzw. Jane 23 wurde – nach ihrer eher zufälligen Flucht aus der Fabrik – von einer KI namens Eule aufgezogen, die in einem von einer Familie mit Kindern verlassenen Schiff zwischen den Schrotthaufen installiert ist und dort mit Restenergie über teils verdeckte Sonnenpanele überlebt hat. Sie rettet Jane 23 das Leben und leitet sie an, das Schiff zu reparieren und instand zusetzen, wofür Pepper durch ihre Zwangsarbeit in der Fabrik bestens ausgebildet ist. Eule ist eine durchgehend fürsorgliche und empathische Mutter – ganz im Kontrast zu den autoritären und gewalttätigen Maschinenmüttern aus der Fabrik. Es gelingt den beiden, obwohl Jane immer kränker und schwächer wird, in den Weltraum zu fliegen und eine Außenposten der Galaktischen Union (GU) zu erreichen, wo Jane geheilt, das Raumschiff und mit ihm Eule als veraltete und nicht mehr zulässige Technik beschlagnahmt und damit von Jane getrennt wird.

Peppers Mission ist es, Eule, ihre Mutter, ihre Familie neben Blue, wiederzufinden, was ihr am Ende mit Sidras Hilfe, die Eule zeitweise in sich aufnimmt, nachdem sie ein Abkappselungsprotokoll geschrieben hat, um ihren eigenen Code zu schützen, auch gelingt. Eule und Sidra beziehen danach einen neuen Raum und teilen sich diesen, und Sidra experimentiert mit weitern Formen der Verkörperung, indem sie auch in Tier-Kits expandiert, durch die sie sich fortbewegen, orientieren und explorieren kann.

„Zwischen zwei Sternen“ ist für mich ein großartiges Buch über Embodiment und Selbstbestimmung, darüber den eigenen Raum und Sinn im Leben zu finden, und hat mir unglaublich viel Freude gemacht.

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Wayfarer I

[Inhaltswarnung: Diese Rezension enthält viele inhaltliche Details des Romans „Die lange Reise zu einem kleinen, zornigen Planeten“ von Becky Chambers.]

Sehr lange wollte ich gar keine Science Fiction lesen oder sehen.
Weltraum, andere Spezies und Welten schienen mir völlig unnötig – denn auf der Erde gibt es ja schon genug zerstörerische, „vernunftbegabte“ Lebewesen, politische, oppressive Systeme, strukturelle, offenkundige Missstände etc. Warum noch neue erfinden?

Unter anderem über den Genderswapped Podcast von Judith Vogt und Lena Richter bin ich auf den Wayfarer-Zyklus von Becky Chambers aufmerksam geworden. Da ich davor schon ein bisschen – ok, erst widerwillig – Star Wars gesehen hatte und begeistert von der Serie „Lost in Space“ (ein bisschen auch von „Foundation“) war, wollte ich den Büchern eine Chance geben. Bisher habe ich die ersten beiden Bänder gelesen. Und: Mit der Crew von Buch I würde ich sofort im All leben wollen.

Was mich besonders an dem Roman „Die lange Reise zu einem kleinen, zornigen Planeten“ begeistert, ja glücklich, hoffnungsvoll und utopisch gestimmt hat, ist die raumgreifende Herzlichkeit (von „Menschlichkeit“ kann mensch angesichts der verschiedenen beschriebenen Spezies schlecht sprechen und auch nicht mit Blick auf die politische Aushöhlung dieses Begriffs). Nahezu alle Wesen handeln aus ernsthaft guten Intentionen und Gefühlen heraus. Beziehungen – auch interspeziäre – sind grundlegend von gegenseitigem Respekt, Empathie und Verständnis füreinander geprägt. Es klingt unglaublich kitschig, aber ich habe das beim Lesen als so wohltuend und heilsam empfunden, weil es weder in der Realität, noch in anderen Medien so durchgängig und authentisch vorkommt. Oft geht es „um der Spannung willen“ (oder aus welchen Gründen auch immer) um Intrigen, interpersonelles Drama, Machtausübung und -missbrauch, „Gut gegen Böse“ etc. Ich kann verstehen, warum solche klassischen Narrative interessant sein können, mich spricht das wenig an, da ich selbst an diesen Dingen kein Interesse habe – weder in meinem persönlichen Leben noch in meiner Freizeit, weder diese Dinge selbst zu tun, noch andere sie tun zu sehen.

Ich liebe an diesem Roman, dem gesamten Wayfarer-Universum, besonders die verschiedenen nicht-menschlichen Spezies mit ihren differenten und differenzierten Kulturen, Sprachen, Ausdrucks- und Kommunikationsformen, wie sie soziale Beziehungen gestalten, Geschlecht, Sexualität und Reproduktion verstehen und leben. Es ist eine solche Bereicherung andere, vollkommen realistische Entwürfe von Identität, Familie und Gefühlsexpression so detailliert und überzeugend beschrieben zu lesen – jenseits von menschlichen Organisations- und Wissenssystemen, die ich selbst oft als einschränkend, mangelhaft und diskriminierend empfinde.

Die ausgeprägte, in vielen Teilen körperliche Intimität der Aandrisks erscheint mir so erstrebenswert, genauso wie ihre Konzepte von Nest-, Feder- und Hausfamilie, wo Kinderbekommen und -aufziehen sich viel stärker an erwachsenen Bedürfnissen in unterschiedlichen Lebensphasen orientiert – was u.a. auch dadurch erst möglich ist, dass die Schlüpflinge von Anfang an selbstständiger sind und weniger auf Erwachsene angewiesen sind, zu denen sie aufschauen und sie imitieren – ohne dabei Forderungen an sie zu stellen. Es ist einfach eine sehr schöne polyamore Kommunefantasie, in der Carearbeit nebensächlich gut organisiert ist.
Besonders berührend fand ich zum einen eine Szene, wo die Aandrisk Sissix einer älteren Aandrisk, die aufgrund von kommunikativer und sozialer Andersartigkeit vereinzelt (und ausgeschlossen) lebt, (auch physisch-sexuelle) Fürsorge und Liebe schenkt. Besonders intime, komplexe Gefühle können Aandrisks über Gesten, ohne Worte miteinander austauschen – was für eine großartige Vorstellung.
Zum anderen bietet Rosemary, eine Menschenfrau, die als Verwaltungsassistentin auf dem Tunnelerschiff anfängt, Sissix ihre körperliche Zuwendung an, nachdem sie Sissix mit anderen Aandrisks auf ihrem Heimatplaneten in ihrer Federfamilie – glücklich und entspannt – erlebt hat und erkennt, wie sehr die Aandrisk diese intensive Intimität unter anderen Spezies vermissen muss. Sissix lebt ihre Zärtlichkeit vorher in Teilen am Kapitän des Schiffes, Ashby Santoso, aus, indem sie ihre Wange an ihm reibt oder ihn an der Schulter berührt – Gesten der Zuneigung, die – aus menschlicher Wahrnehmung – nicht ihrer professionell-freundschaftlichen, rein platonischen Beziehung entsprechen, was er annimmt bzw. geschehen lässt.

Ashby selbst lebt in einer Fernbeziehung mit einer Äluonerin, Pei, mit der er nur sporadisch zusammenkommen kann. Die ebenfalls sehr interessante Geschlechterordnung, Familienpolitik, Sprach- und Gefühlskultur der Äluoner*innen spielt in Buch II eine stärkere Rolle. In Buch I ist aber bereits zu erfahren, dass diese Spezies ursprünglich keine Lautsprache besitzt – aber nun Sprachboxen in ihren Kehlköpfen benutzt, um mit anderen Spezies zu kommunizieren -, sondern über Farben, die auf ihren Wangen sichtbar sind, miteinander sprechen.
Eine weitere, interspeziäre sehr intensive Liebesverbindung besteht zwischen dem kleinwüchsigen Comptech, Jenks, und der gefühlsbegabten KI des Schiffes, Lovelace, genannt Lovey. Um sich noch näher sein zu können, überlegen die beiden über den Roman hinweg, ob Lovey aus den Kommunikationssystemen der Wayfarer in ein Bodykit wechseln könnte bzw. möchte – was gesetzlich verboten ist. Unglaublich interessante Fragen wie „Ist eine KI (auf einem sehr hohen Funktionsniveau) ein vernunftbegabtes Wesen?“, „Ist ein Körper für eine Liebesbeziehung notwendig?“, „(Wie) Ist Intelligenz und Identität an eine physische Existenzform (Embodiment) gekoppelt?“ werden in Teil II des Wayfarer-Zyklus intensiv und innerhalb einer spannenden Storyline behandelt.

Der Koch des Schiffes ist ein Grum, eine Spezies, bei der zu Beginn des Lebens alle Wesen weiblich, also Töchter und Mütter sind, und die sich dann in der Mitte des Lebens zu Männern entwickeln. Grums sprechen an sich multitonal, mit zahlreichen schwingenden Stimmbändern gleichzeitig und Gedanken werden ebenfalls immer laut in Tönen und Geräuschen gedacht. Um mit den anderen Spezies auf Klip, eine Art Englisch oder Esperanto, sprechen zu können, reduziert Dr. Koch seinen komplexen Lautapparat auf möglichst eindimensionale Schallwellen.
Zur Crew gehört außerdem noch ein Sianatpaar, das im Plural angesprochen wird, da sie von einem Virus infiziert sind, das für den Großteil der Spezies als heilig gilt, ihnen besondere navigatorische Fähigkeiten verleiht, aber sie auch nach und nach töten. Die Pronomen und der Glaube von Ohan werden von allen respektiert und geachtet, auch als sich am Ende herausstellt, dass es ein Heilmittel gegen das Virus gibt, das Ohan wieder gesund und zu einem Individuum machen könnte – was erstmal als ein Akt der Häresie erscheint.
Generell wird innerhalb der Galaktischen Union (GU) über alle nicht-geschlechtlich verortbaren Wesen erst einmal mit geschlechtsneutralen Pronomen „ser/sir“ gesprochen.

Es ist nicht alles „heile Welt“ in „Die lange Reise zu einem kleinen, zornigen Planeten“ – gerade zum Ende verdichten sich konfliktbehaftete Szenen. Die Quelin und Toremi sind keine besonders friedlichen Spezies – und dennoch erscheint mir ihre Brutalität und Orthodoxie glaubhaft und redlich, da sie nachvollziehbare Überzeugungen vertreten und nach diesen handeln – auch hier gibt es keine Scheinheiligkeit.
Der Kolonialismus durch die Harmagianer*innen liegt in der Vergangenheit, wird aber immer wieder indirekt und direkt thematisiert.
Interessant finde ich außerdem die entworfene Modder-Kultur, in der sich Menschen (und andere Spezies ?) körperlich modifizieren, um „ihr wahres Selbst“ hervorzubringen. Es geht dabei nicht um leistungsorientierte Optimierung, sondern um Selbstausdruck, also das technisch aus 1 hervorzuholen, was 1 in sich wahrnimmt.

Wenn es eine Sim gäbe, in der ich Teil des Wayfarer-Universums werden könnte, würde ich es sofort tun.