Dieses Jahr werde ich so alt wie mein Vater war, als er, wie er sagt, aufgewacht ist. Fast ausgestiegen aus einem Leben und dann doch noch einmal neu angefangen. Aufgehört mit der Anpassung, die keine*r bemerkt und die dennoch zerstört hat.
Ist es die Transition? Ist es diese zweite Pubertät? Oder doch einfach das Leben. Werde ich jetzt (erst) erwachsen oder warum lerne ich so viel – eigentlich jeden Tag über mich. Ist es eine Heilsgeschichte? Bin ich die Reinkarnation meines Vaters, sein Sohn der Messias, der gekommen ist, um sein Leben immer mindestens als eine 2+ zu empfinden.
Habe ich jetzt die Pubertät meiner Mutter, in leichten Variationen, aber in den unscharfen Untiefen und der Dramatik der gefühlten Einsamkeit präzise, noch einmal aufgeführt, um nun die assistierte Selbstheilung in einer Tour de Force der Selbstreflexion, Selbsterkenntnis und Selbstwirksamkeit des anderen Elternteils nachzuvollziehen?
Es ist unverschämt, wie viel eine Enttäuschung ist. Es ist ein ständiges Abschiednehmen von falschen, überzogenen Erwartungen. An Menschen, an Institutionen, an Gesellschaft, an Wissenschaft – an mich selbst. An Beziehungen, an Urlaub, an ein Leben in Lohnarbeit und mit Kindern. Ist das diese Entzauberung, die Banalität der Existenz?
Ich sehe, was gut ist, und ich fühle mich schlecht. Ich möchte mein Recht auf Wut, Enttäuschung und Trauer behalten. Wer hat mir das alles versprochen und nicht gehalten?
Ich lerne mehr, was mir gut tut. Raum und Zeit für meine Gedanken und Gefühle ist gut. Zeit und Raum für Übergänge ist wichtig. Es gibt den verletzten Wunsch nach Gemeinschaft und Gemeinsamkeit, aber eigentlich bin ich sehr gerne für mich. Ich mag meine Sparsamkeit und meine Routinen.
Da ist Stolz, dass ich den Mut aufgebracht habe, für all die Experimente, ein klassisches Trial and Error. Dass ich losgegangen bin mit der Angst im Nacken, in die Ungewissheit. Vielleicht ist die gespiegelte Coolness und Abgeklärtheit nur eine schweißgetränkte Schockstarre.
Gerade bin ich müde und ernüchtert von meinen Ausflügen in mögliche alternative oder supplementäre Welten. Und randvoll mit Erkenntnissen und Erfahrungen. Und wenn ich ein bisschen ausgeruht und verdaut habe, ziehe ich wieder los in den erweiterten Handlungsspielraum – vielleicht mit einem feiner justierten Bedürfniskompass und einer nuancierteren Gefühlslandkarte.
Am Wochenende habe ich an einem Körpererfahrungs- und Empowermentworkshop für trans* und nicht-binäre Personen geleitet von Alexander Hahne (https://alexanderhahne.com/) und organisiert vom NGVT NRW (https://ngvt.nrw/koerpererfahrungsworkshop-fuer-trans-und-nicht-binaere-personen-mit-alexander-hahne/) teilgenommen. Fast wäre ich wegen absoluter Verpeiltheit an der Anmeldung gescheitert. Mensch, bin ich froh, dass ich dabei war. Kurzzusammenfassung zu Beginn: Es war ein sehr bestärkendes und berührendes Erlebnis, einen Raum mit anderen queeren Personen zu teilen und zu gestalten.
Es ist immer noch eine Überwindung für mich, mich auf Gruppensituationen (vor allem mit erstmal fremden Personen) und auf körper- und wahrnehmugszentrierte Bildungs- und Erfahrungsangebote einzulassen, da ich damit aufgrund von (sozialen) Ängsten bisher wenig Berührung hatte und wenn eher theoretisch-kognitiv orientierte Veranstaltungen besucht habe, wo ich als individuelle Person mit einer bestimmten Körperlichkeit (vermeintlich) keine Rolle gespielt habe bzw. im Hintergrund bleiben konnte.
Ich finde es unglaublich spannend, wie dort ein semi-privater, intim-öffentlicher Raum entstanden ist, in dem Körper, Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle wertfrei, größtenteils unkommentiert nebeneinander existieren können. Wo es möglich wird, aktuelle und generell wichtige persönliche Dinge auszusprechen, wo primär zugehört und verstanden wird. Für mich hat das gesamte Setting (neben der Entwicklung und Reflexion, die ich davor schon selbst gemacht habe, um an diesen Punkt zu kommen) so viele unsichtbare Hürden abgebaut, die mich in anderen Kontexten hemmen, mich überhaupt zu zeigen und zu äußern. Es ist eine sehr schöne, bestärkende Erfahrung, mich als zugehöriger Teil einer Gruppe fühlen zu können und mich nicht fehl am Platz und randständig zu fühlen.
Es ist so simpel und gleichzeitig krass, was für einen Unterschied es für das Wohlbefinden und Erleben macht, die „Erlaubnis“ oder sogar explizite Aufforderung zu bekommen, sich in einem Seminardispositiv frei bewegen und körperlich ausdrücken zu dürfen, wie es eins authentisch und intuitiv erscheint. Es lässt deutlich werden, wie reglementiert der Raum und Körper in ihm in der Regel sind, was implizit als „angemessen“ und „normal“ gilt. Es ist so eine Erleichterung, dass nicht jede körperliche Regung als Indikation für Aufmerksamkeit gewertet und entsprechend fokussiert wird.
Neben der Erkenntnis dieses Befreiungspotenzials hat mir außerdem besonders gut gefallen und mich erstaunt, wie es möglich ist, nicht nur physisch, sondern auch thematisch innerhalb einer Gruppenkonstellation den Fokus auf das Individuum zu legen – auf die eigenen Bedürfnisse, Fragestellungen und Grenzen. Ich dachte für mich immer, dass es einer Art von Integration und Anpassung auf etwas Gemeinsames, eine Art Schnittmengenfokussierung innerhalb von Gruppen geben muss, damit „es funktioniert“ oder „richtig ist“. Wahrscheinlich ist diese fälschliche Ansicht dem Normativitätsdruck in der Dominanzgesellschaft geschuldet, wo es meistens so abläuft und sich aufgrund dessen marginalisierte Personen aus diesen Räumen zurückziehen – wie ich auch, weil wir in diesem gemeinsamen Resteschnipsel nicht mehr vorkommen, sondern herausgeschnitten sind.
Erholsam anders fand ich in diesem Workshopkonzept auch, dass es durch den oben beschriebenen Ansatz weniger um gesellschaftliche Diskriminierung (negativ besetzt und Kräfte raubend) ging und mehr um die eigenen Ressourcen und Zugehörigkeitserfahrungen im kleineren alltäglichen Rahmen (positiv besetzt und Kraft gebend). Es ging dabei nicht darum, diese Diskriminierungsstrukturen – und erlebnisse zu leugnen oder zu relativieren, sondern sie als gegebene Rahmenbedingung anzuerkennen, aber dieses Hintergrundrauschen für den Moment eher auszublenden. Die Idee war auch nicht eine Art toxischer Positivität, sondern queer joy und trans* empowerment zu zentrieren.
Dabei habe ich es als total bestärkend erlebt, andere trans* und nicht-binäre Personen real zu erleben und über sich, ihre Struggles und Träume sprechen zu hören. Es waren so starke Menschen dabei und gleichzeitig so eine große Offenheit für Verletzlichkeit und Unsicherheit. Es war toll und berührend, Personen zuversichtlich zu sehen, die sich gerade erst auf ihren Weg der Transition und gender journey gemacht haben, und wie Menschen, die schon länger unterwegs sind, neue Impulse bekommen haben oder einfach nur gesehen und gehört wurden – auch in ihrem Leid. Super wichtig und interessant fand ich in diesem Kontext den Hinweis auf die Unterschiedlichkeit der Bewertung und Reaktion auf bestimmte Gefühle und ihre Äußerung. Dass z.B. Traurigkeit viel eher akzeptiert und wertgeschätzt wird als z.B. Wut.
Die Erfahrung, dass eine vermeintlich homogene kleine Gruppe, in diesem Fall von trans* und nicht-binären Menschen in sich sehr heterogen sein kann, ist vielleicht banal. Ich finde es aber immer wieder wichtig, mir das selbst vor Augen zu führen, wie verschieden Lebensrealitäten, Wünsche und Interessen trotz konkreter (vermeintlicher) Gemeinsamkeiten sein können. Die Frage nach Community, Gemeinschaft(lichkeit), Zugehörigkeit, Sichtbarkeit und Repräsentation ist keine einfache – auch hier gibt es (natürlich) intersektionale Bezüge und Spannungen mit einem imaginierten queeren Mainstream.
Durch eine simple Übung von Führen und Folgen konnte ich für mich noch einmal praktisch erleben, was mich in den letzten Monaten in größeren Handlungskontexten stark beschäftigt hat und woran ich arbeite(n möchte). Sicherlich habe ich das Ganze auch nur durch die eh schon hohe Awareness für dieses Thema so wahrgenommen und eingeordnet. Ich kann mich gut fallen und führen lassen, habe großes Vertrauen in bestimmte Personen und genieße bis zu einem gewissen Punkt die Entspannung, Sorg- und Verantwortungslosigkeit, die mir diese Anpassung und Bindung ermöglicht. Irgendwann kippt die Situation und ich möchte selbst wieder mehr in die Autonomie und Führungsrolle, da mich der Kontrollverlust ängstigt und überfordert und mir das Gefühl der Selbstwirksamkeit fehlt. Diese Grenze konnte ich innerhalb der Übung sehr gut spüren und möchte diesen Punkt oder, wenn ich auf ihn zusteuere, auch im Alltag bewusster wahrnehmen und wenn überhaupt nur bewusst überschreiten.
Bis vor kurzem hatte ich gar keinen Zugang zu solchen Bildungsangeboten und eher Zweifel, dass das etwas Gutes für mich sein könnte. Ich bin froh, dass der Mut der Neugier beigesprungen ist und die Ängste und Widerstände leiser geworden sind. Wie auch nach dem Wochenende für Regenbogenfamilien im Monat davor ziehe ich für mich das Fazit, dass ich mehr solche Erfahrungen mit anderen queeren Menschen machen will, weil ich dort viel (Neues) über mich und andere lerne, sich neue Räume eröffnen und Impulse ergeben, die wichtig für mein Leben, mein Wohlbefinden und mich als Person sind.
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An dieser Stelle empfehle ich euch ganz generell die Angebote von Alexander Hahne sowie vom NGVT NRW.
In meiner Geschichte gab es eine Zeit, da hatte ich praktisch keinen Körper und theoretisch Freizeit. Darauf folgten Jahre ohne praktische Freizeit und einem theoretischen Körper und gerade habe ich eine Evolutionsstufe erreicht, in der ich praktisch und theoretisch (m)einen Körper und (m)eine Freizeit habe, also in der Theorie einen sehr praktischen Freizeitkörper. Ich frage mich, was dieser Körper in seiner Freizeit alles hätte sein können, wenn ich früher die Form und den Raum für ihn gefunden hätte, die Kraft und das Zutrauen, die wir uns jetzt gegenseitig schenken (könn(t)en).
Wie ich so durch die Landschaft laufe, fällt mir auf, durch wie viele deutsche Berg-, Wald- und Seegebiete ich in meinem Leben schon gewandert bin und wie glücklich ich mich deshalb schätzen kann, könnte. Manchmal neige ich dazu zu glauben, alles in der Vergangenheit – vor der Lennwerdung – schlecht finden, abwerten zu müssen. Als dürfe es in meiner, der damaligen Form nicht zumindest in Teilen gut gewesen sein, was ich (mit anderen) erlebt habe. Wie immer erinnere ich mich vor allem stark an die Anstrengung, die permanente Anspannung. Ob und was ich überhaupt gegessen habe, keine Ahnung. Es ist ein Wunder, wie ich in diesem Zustand der Selbstenergievorenthaltung, diese Dinge tun konnte. Was (s)ich nährte, war ein gewisses Unterlegenheitsgefühl, das körperlicher Natur war, sich aber auch auf andere Freizeitaktivitäten erstreckte, und ich immer bei mir trug.
Jetzt, wo ich dieses kraftraubende Biest in weiten Teilen abgeschüttelt habe, das vor lauter Angst beständig auf die Bremse trat, kommt das kleine, zähe, unersättliche Tier, das ich bin, mehr und mehr zum Vorschein und in Fahrt. Ich könnte alles in Grund und Boden rennen. Diese körperliche Grenze der totalen Erschöpfung (oder Entspannung?) zu finden, scheint ein roter Faden in der Erzählung zu sein. Der Energieentzug unter erhöhter Aktivität hat es nicht gebracht, andere Körper mit meinem Körper erschaffen und nähren auch nicht – denn das kann mensch aus verschiedenen Gründen nur sehr begrenzt tun -, also drängt es meinen Körper weiter, sich in seiner Freizeit frei und entgrenzt zu fühlen. Es ist, als wäre ich kryokonserviert gewesen und meine ganze Kraft und Energie für diese Phase aufgehoben.
Es erstaunt mich ungemein, was ich über mich (selbst) lerne, seitdem ich mir 1 Lennz mache. Mir wurde gesagt, ich sei extrem, radikal und konsequent. Und es stimmt – auch wenn ich denke, dass ich viel weicher geworden bin, in vielen Dingen. Ich erschien mir immer so leise, zurückhaltend und dezent. Wahrscheinlich schließt es sich nicht aus. Nun erkenne ich also, dass ich körperliche Reize suche, um mich zu fühlen. Ich spüre gern den Boden unter meinen Füßen. Ich fahre mit den Fingern über Oberflächen. Ich brauche knackiges Essen, an dem mensch kauen muss. Ich mag eiskaltes und heißes Wasser auf meiner Haut. Ich liebe es, Sex zu haben und generell in Bewegung zu sein, weil ich dann nur noch Körper und voller guter Gefühle bin. Und frei habe von meinen Gedanken oder diese ordnen kann. (Bestimmte) Sensorische Wahrnehmungen beruhigen und beglücken mich.
Seitdem ich eine theoretisch-praktische Freizeitkörperkultur habe, stellt sich eine naiv hedonistische Erwartung ein, immer das Optimum an Freizeit und Körperlichkeit herausholen zu wollen und zu müssen. Das kann nur schief gehen. Entweder scheitere ich an mir selbst, weil ich mir immer noch eine optimalere Nutzung oder perfektere Option vorstellen könnte (oder erst gar nicht weiß, was ich gerade grundsätzlich will; oder den zeitlichen Aufwand, die finanzielle Investition, die soziale Interatkion scheue, weil ich unsicher bin, ob dies das gefühlte Er(g/l)ebnis rechtfertigt), oder ich scheitere an anderen, die – verständlicherweise – meine Bedürfnisse und Wünsche nur in Schnittmengen oder in dem Moment gar nicht teilen. Die ausgeprägte Unverfügbarkeit der absoluten Stimmigkeit ist eine außerordentliche Unverschämtheit.
Manchmal schäme ich mich für meine weitenteils unbegründete Undankbarkeit und Unzufriedenheit, weil ich mir vorkomme wie ein trotziges Kind, das das bestellte Erdbeereis bekommen hat, aber doch lieber die Pommes gehabt hätte oder beides oder doch lieber das Ninjagoheft und nicht gleich erst, wenn es in das Gesamtgefüge passt, sondern jetzt sofort. Vielleicht ist es die Gier nach der Wüste, dass ich nur noch in der Oase leben will, rundrum bestmöglich bewässert. Doch ich wachse auch so. Vor allem seitdem ich mir selbst nicht mehr das Wasser abgrabe.
Es fällt mir schwer, meine Abhängigkeit von anderen zu akzeptieren. Ich muss mich immer wieder in meiner Autonomie sonnen und mich meiner eigenen Widerstandsfähigkeit vergewissern. Oft verzichte ich lieber auf Möglichkeiten, um Ungewissheit, Konflikte und Kontrollverlust zu vermeiden, die mit Bindung kommen. Ich glaube, mir fehlen einige Beziehungserfahrungen aller Art, ein Repertoire an sozialem Training, das ich verpasst habe in den Zeiten der Isolation, im Zombiemodus. Einige Ängste sind noch da und hemmen mich.
Mein Gefühl sitzt teilweise noch ängstlich in der Vergangenheit, während mein gegenwärtiger Körper viel freier und selbstbewusster sein könnte. Kommentierte und kontrollierte Körper und Gefühle entfalten sich langsam. Es ist schwer, das innere zwölfjährige Kind hinter mir zu lassen, das ich jahrelang, auch in projizierten Augen anderer, war. Eine trans-masc Transition hilft da auch erstmal nur bedingt – zumindest konnte ich so nochmal sechszehn sein. Ich reagiere oft mit Schockstarre auf ‚negative’ Stimmungen und Auseinandersetzungen und brauche lange, um mich selbst wieder zu stabilisieren und ins selbstbewusste Handeln zurückzufinden. Ich merke ich werde besser darin. Es ist viel innere Arbeit.
Vielleicht ist mein Körper einer, der nicht viel Freizeit braucht. Oder ich muss noch besser lernen, meinen Körper und meine Freizeit zu kultivieren. Vielleicht ist es ok, in der eigenen Freiheit und Körperlichkeit oft ambivalent und eher melancholisch als zufrieden oder euphorisch zu sein. Und jeden Moment bewusst wahrzunehmen, in dem alles stimmt.
Nachbarschaftshilfe und Lokalpatriotismus stabil in Brotterode. Mit den Dorffahnen weht und wettert Hildegard aus dem Fenster und verscheucht uns rechtmäßig vom Parkplatz. Manfred und Reinhard huckeln mit ihren Maschinen über den Schotter an der Schanze, ein außen mit Spitze besetzter schwarzer Schmetterling fliegt auf.
Trommel-, Klangschalen-, und Alublechklänge begleiten uns rund um die Alte Eisenbahnbrücke. Der Weg ist ausgewaschen, es plätschert hier und da – der Wetterzauber scheint bewehrt. Kunstvoll und künstlich angelegt lockt der Wasserfall im Trusetal nicht den Regen, sondern die Leute. Die meisten bleiben befriedigt unten, kühl tropft das Eis und Aperol. Dem Springkraut und uns gefällt das. Oben lassen wir uns mit Bratwurstduft und Sprühwasser benebeln.
Mit erfrischten Füßen geht es dann durch Elmenthal. Akkurat ruhen hier die Steine schwarz und weiß in ihren Gärten, die Geranien in den bunten Blumenkübeln und die Wäsche wackelt duftend auf der Leine. Kois drehen stoisch ihre Runden im Teich von Hans-Georg Maaßens Wahlkreisbunker unbeeindruckt vom Industrial Chic in Rostbraun.
Nach dem Aufstieg begrüßen uns tückische Mücken am Wallenburger Turm und machen uns die Pause madig. Doch endlich kommt mein Conni-Moment und es gibt einen Wanderstempel auf den Unterarm. Willkommen im Club der queeren Wandersocken. Viel cooler noch als ich, düst Friederich mit seinem Trabi um die Kurve. Aber so sexy legs wie wir, die hat er nicht.
Mountainbike-Man brettert über den Kies und glatt vorbei an Himbeerheaven. Wir sammeln uns zwei Dosen voll und sind gestärkt für Hermannsblick und Mommelstein. Durch grasig-dorniges Gestrüpp schlagen wir uns durch zum Grand Finale, bis rauf zur Schanze Inselberg. Nur echt mit Sven Hannawald-Pose und mähendem Schanzenschaf!
Die Schuhsohle ist durchgelaufen, es kann also nach Hause gehen.
Beim Frühstück saue ich mich großfleckig und zunächst unbemerkt mit Schokocreme ein. Was besonders ärgerlich ist, da ich meinen liebsten 3€-Flohmarktfundpulli bei dem leicht ergrauten Wetter gut hätte ausführen können. Vielleicht ist der Bäckereifachverkäuferin auch Brotaufstrich über das Leben gelaufen, ich verlange unvergoren und kaltschnäuzig Stachelbeerkuchen und Kalten Hund.
In Tambach-Dietharz ist auf jeden Fall einer begraben und warm ist er bestimmt nicht mehr. Fliegenschwärme steigen laufend aus kuhlen Feuchtgebieten auf – es ist ein bisschen wie eine nicht eintretende Zombieapokalypse – irgendetwas verwest hier unentwegt. Nach kurzer Zeit haben wir vom Asphalt die Schnauze voll und stapfen Rotkäppchen like ins Unterholz. Der App gefällt das nicht und so komoot es, während wir über Stein und Zapfen kraxeln, not amused: „Du hast die Route verlassen. Wirf einen Blick auf die Karte.“ Wir ignorieren das gekonnt und werfen lieber einen Blick vom Fels auf das schmale Wasser und staunen breit. (K)ein norwegisches Fjord, (k)ein schottisches Loch liegt zu unseren Füßen. Mal rodierte Baumstammknochenkunst und Grashüpferballett wird zwischen gelben Blüten und langen Gräsern am Ufer aufgeführt.
Das Röllchen ist ganz wunderbar – wie diese (DE)Tour generell. Es plätschert, es wurzelt, es moost überall. Wie die Geier sitzen Volker und Karin lauernd plaudernd auf der Brücke und pellen ihre hart verdienten Eier. Im Mitsubishi braust der Staumeister ums Eck, also ziehen wir weiter Richtung Falkenstein. Der Teich wär Amadeus und Sabrina kein Wassergraben mehr, das Wasser hat ihm der Sommer schon längst abgegraben. An Meister Eckhards Eisenketten erklimmen wir den Alternfels und beobachten gesättigt und erheitert, wie sich die Ameisen ritterlich im Brötchenkrümelwettlauf und Frühlingszwiebelringstechen schlagen.
Rückwärts wählen wir gleich den Forstweg. Hohe Bäume, wohin das Auge reicht, weicher Boden, wohin der Fuß tritt. Das Städtchen finden wir weiterhin verschlafen vor. Die Menschen sind nicht an der Staumauer, sie stauen sich bei REWE an der Kasse. In Geduld gemessen dauert der Wasserkauf mindestens so lange wie die Wanderung. Doch: viel Moos befühlt, ein paar Baumvulven gestreichelt und harzige Löcher geleckt.
Was Halle die Zahnärzt*innen- und Physiotherapiepraxen sind, sind Friedrichroda die Blumenläden und Gotha die Schuhgeschäfte. Die blau-gelb gestrichene Wald- und Wiesenbahn ruckelt uns gemütlich und zuverlässig ans Ziel. Die Stimme des älteren Herrn mit Türkis bespanntem Kugelbauch fährt mir schon am Bahnsteig ochsenfroschartig tief durch Mark und Bein und ich bin froh, keines der Teeniemädchen in seiner Gesell- und Verwandtschaft zu sein. Eine Einkaufstüte von New Yorker eignet sich nur bedingt als Schutzschild gegen miese Kommentare und Ansichten.
Im Second Hand Shop lasse ich etwas wehmütig die geblümte Linus-Giese-Gedächtnis-Hose hängen und Herr Gigerenzer bei Leifer Schuhe hat nur einen netten Plausch, aber leider keine passenden Sandalen für mich. Konsum und ich – it’s not a match. Doch der Kaffee in der Coffee Bar stimmt mich versöhnlich – mit einem Hauch von Marzipan im Mund. Der Boy hinter dem Tresen ist sehr niedlich in seiner latent verschämten Latte Art. Wie er uns liebevoll auf den ersten Blick als Tourist*innen entlarven konnte, wird für immer ein Rätsel bleiben.
Räubertellermäßig Panini knuspernd belausche ich einvernehmliche Gespräche über Fußpflegedynastien, alkohollastige Ausflüge und das Für und Wider von Reisen in die USA. Eine abwesende Bekannte mit blondem, wehenden Haar wird von den drei Kurzhaarigen und Ergrauten-Übertönten beifällig und beiläufig gedisst. Misogynie ist überall – auch in der Provinz am Nebentisch.
Irgendwie sehen alle Paläste ein bisschen ähnlich aus. Ob in Wien, Weimar, Benrath oder Paris. Ich frage mich, was aus all den halb verfallenen, halb restaurierten Schlössern, Anwesen und Altbauten und aus der Region geworden wäre, wenn es die deutsche Teilung nicht gegeben hätte. So viel alte Bausubstanz, so viel Land und Fläche – entwertet und vergessen, belächelt und notdürftig touristisiert. Was macht eine Stadt und ihre Umgebung lebenswert?
Die Straßenbahnfahrerin auf der Rückfahrt mit dem langen braun geflochtenen Zopf ist ein bisschen aggro und brüllt einmal durch den Gang und einmal aus der Tür. Der ellbogentattoowierte Vater mit den zwei Kindern in Wildingen und Shirtaufschrift „I hate people“ vom Hinweg taucht nicht wieder auf, die Gruppe vom Anfang steigt zeitgleich mit uns aus. Wir gehen durch die Kleingartenanlage, der Himmel ist grau und es ist angenehm kühl.
Die Duscharmatur wackelt beim Betätigen leicht aus der Wand. Die Therme macht aus dem Bad unterm Dach eine kleine feine Sauna und denkt sich: Klimawandel, da bin ich dabei und leiste meinen Teil. Im Ort blühen die Blumenläden und gähnen die Schaufenster. Schöner Sterben in Friedrichroda, zum Beispiel in einer Buddhaurne. Beim Rucksackkauf wird mir von Lila dezent abgeraten. Einzelhandel und ganze Landstriche – ja, die Binarität ist nicht tot zu kriegen.
Das Wasser schwappt in der Talsperre wie die Spülmaschine im Ecomodus. Erst ist es ein bisschen Ostseefeeling, Kiefernwald und Klippen, von heißer Luft umweht. Ich denke an Okraschoten und höre meinen Vater im Geiste etwas von Silbersee faseln. Statt Red Facing auch hier wieder roter Boden, rote Beeren. Himbeersträucher und Vogelbeerbäume säumen die Wege. Süßlich-würzige Moleküle kitzeln in der Nase. Orangefarbene Schmetterlinge mit Hummelhintergrund tummeln sich auf den Brombeer- und Distelblüten. Brennnesseln und Farn wogen mit den Wipfeln im Takt im warmen Wind.
Während ich in meinen Birkenstocks weiter schlappe, tauchen tatsächlich irgendwann Birken auf. Ein Eichelhäher fliegt auf und eine Amsel huscht über den steinigen, halb befestigten Weg. Kurz danach springen auch wir hastig ins Gebüsch, als eine Kolonne kolossaler LKWs bis oben hin mit Baumstämmen beladen schwungvoll um die Ecke biegt. Vielleicht haben sie die Blindschleichen, Mistkäfer und Spitzmaus platt gefahren, vielleicht hat auch die Hitze der letzten Tage sie platt gemacht.
In der Farbe eines ausgeblichenen lindgrünen Sofas wächst Moos in knotigen Puscheln um Wurzeln und auf geschichteten Mäuerchen wie ein oberirdisches Korallenriff. Das maritime Muster setzt sich in der Form der Route fort – wir erlaufen einen Seestern, dessen Körper sich 14,5 km in die Landschaft streckt. Bis auf ein herumirrendes und ein sportlich-professionell radelndes Paar treffen wir niemanden. Als ich erneut widerwillig väterlich beginne von Salamibrötchen und Doppelkeksen zu fantasieren, scheint eine Pause angebracht.
Stimmungs- und Wetterumschwung fallen fast in eins – ein wirkliches Gewitter gibt es nicht, nur ein paar verzagte Tropfen fallen auf die angeschrägten Fensterscheiben. Wir steigen aus dem Wechselbad der Gefühle in das Kneippbecken an der Ohra, für kühlen Kopf und kalte Waden. Es ist gut besucht, also kein Storchenschritt für mich. Gleich über die Brücke findet sich ein Camperkaffeespot im Park der prächtigen Schwestern. Doch Luisenthal ist (zum Glück) nicht Córdoba.
Bis auf die Knochen parfümiert schieben sich Menschen mit Kind und Kegel, Hund und Handy schnaufend und schnatternd durch die Drachenschlucht. „Wenn es Scheiße ist, dann stinkt‘s“ und andere Weisheiten hallen durch die engen Felsengänge. An manchen Stellen tropft das Moos und Schmetterlinge steigen auf im Dunst und Sonnenflimmern.
Irgendwann zieht es mir auch hier wieder die Schuhe aus. Nadeln und Steinchen nun unmittelbar unter meinen Sohlen. Mich Erden hilft ein bisschen. Nah des Großen Drachenstein sind die Bäume tot und der Boden heiß. Das Waldbad hört man schon von Weitem. Kühe grasen Zaun an Zaun. Wer nicht die Kühle der Schlucht gesucht hat heute, ist gleich im gechlorten Nass verschwunden. Noch mehr Fremdkörperkonfrontation heute lieber nicht.
Als mehrere Hunde sich im Gesteinsgetümmel an die Gurgel gehen wollen und später ein Rettungswagen vorbei rauscht, halte ich mir die Ohren zu. Was machen Menschen mit Tieren an Orten, die für sie beide, für die sie beide nicht gemacht sind? Sollte ich noch einmal im Sommer Wandern, brauche ich dringend wieder Teva. Die Wespen warten in der nächsten Schlucht auf uns – Essen und Pause auf der Flucht.
Später noch Kuchen ohne Kaffee im Funkloch bei Wassergesang. Ein Eichhörnchen schaut kurz vorbei, hebt den Kopf und kurz die Stimmung. Im Abendrot noch ein nostalgischer Aufstieg zum Berghotel by proxy. Dicke grüne Schlauchschlangen bewässern ein Anwesen. Gegenüber verfällt ein Haus. Die überwucherten Parkbuchten sind noch numerisch markiert. Einfahrt freihalten, na klar.
Nach dem vermeintlichen Nazi, der einfach nur Eintracht Frankfurt Fan zu sein und einen Elektrobetrieb sowie schlechten Geschmack zu haben scheint, begrüßt uns neben leicht Hund behaarter Bettwäsche ein weicher, warmer Waldboden, während es drumherum überall emsig summt und sirrt.
Die abwechslungsreichen, eher abseitigen Wege sind gesäumt von roten Beeren, sogar die Heidelbeersträucher haben sich ein Beispiel an der Prophyrlandschaft genommen und ihre Blätter in Purpur gehüllt. Den Duft, den sie verströmen, würde ich gerne dauerhaft als feste Duschseife einfangen. Mein ganz persönlicher Dyke March im Abendlicht.
In Bad Tabarz steppt der Bär nicht mehr – der letzte wurde über eine Klippe in den Tod getrieben. Geblieben ist der Bärenbruch und gekommen sind Kurgäste und eine Bäckerei, die als einzige in der Umgebung auch sonntags ihre Türen öffnet. Im Kurpark filigran aus Holz geschnitzt und aus der Zeit gefallen die Horrorgeschichten vom Struwwelpeter in 2D.
Im Nahkaufgetränkemarkt kassiert eine Frau mit Flamingofrisur freundlich das Bier. Laut lauter Laternenpfählen rockt Rainer bald alles in Ohrdruf nebenan. Die Kirchturmuhr schlägt 8:15, 8:30, 8:45, eins, zwei, drei. Motorradgeräusche dringen durch die offenen Fenster hoch ins leicht stickige Dachgeschoss, dann geht es los.
Gleich als wir die geliehene Wohnung betreten, kann ich den Song, den ‚Von wegen Lisbeth‘ über die abwesende Gastgeberin hätte schreiben können, hören, der sich aus den anwesenden Gegenständen wie von selbst ergibt. Hannah Arendt neben Halli Galli im Regal, getrocknete Blumen an der Wand.
Auf Basis des Kleidungsstils und des Telefonats auf dem Weg hierher werden aus der unbekannten V. und bekannten M. eine diffuse Person – groß, blond und schön, intellektuell, belesen und zu soft für mich. Die altrosa Bettwäsche auf grauem Laken und die Flohmarktteller mit den Purpurblüten nähme ich sofort. Aber ohne den Balkon mit dem Wald- und Wiesenstrauch wäre es nicht das Gleiche.
Wenn an der Fassade kein Graffiti oder Zahnarztschild prangt, klebt in den Fenstern in großen Lettern „Physiotherapie“. Der August-Bebel-Platz erinnert mich ein bisschen an Aachen. „1312“ im Viertel deutlich in der Überzahl. Das Birne-Holunder-Eis war leider aus.
Die Hallorische Flora ist klug – neben Unmengen an Kornblumen säumen zahlreiche Disteln und andere stachelige, widerstandsfähige Gewächse die Saale und zieren die weitreichenden Felder. Wir sehen einen Fasan (😲), Pferde, Rinder, Ziegen/Schafe, Damwild auf dem Weg und kleine Fische im Fluss, die an den Zehen knabbern.
Kurz vor Wettin kollidiere ich in voller Fahrt mit einer Wespe, die beim Sonnengelb meines T-Shirts sicherlich auch besseres erwartet hat, als nach zwei Stichen mit leichter Hektik dort heraus geschnipst zu werden. Die Aussicht nach der Apotheke war es wert, nur den Tag danach juckt es wie Sau.