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Unterwegs

MD Memo

Im kühlen Hausflur riecht es nach Barbieschminke. Tobias denkt, dass durch ein paar Plastikpflanzen hier und da, eine stylische Messingdeckenleuchte, die seltsam im Raum montiert ist, und einen Mülleimer mit Motivationssprüchen bedruckt ein schönes Ambiente entsteht. Den Fettfilm auf den Gläsern im Regal und die Streifen auf den lieblos gewischten Fenstern und Kochfeldern interessiert das nicht.

Nachts singt draußen jemand hingebungsvoll und dezent „Marmor, Stein und Eisen bricht“, während ich mich auf der viel zu weichen Matratze zwischen den viel zu weichen Kissen schwitzend hin und her wälze. Morgens springe ich auf und fahre mit dem Rad einmal queer durch die Stadt, um den Fluss und den Dom zu sehen.

Während wir auf der Picknickdecke liegen fahren immer wieder Leute mit laut schallenden Boomboxen vorbei – Punk, Techno, Reggae ganz egal. Bei 38 Grad stinkt auch die Elbe ein bisschen. Mit Maske in einen Laden zu gehen ist wie als Alien das erste Mal ein fremden Planeten zu betreten. Überall verfallen die leer stehenden Altbauten und hoch aufragende Baukräne errichten Wohnträume – weiß, glasig und pompös wie Kreuzfahrtschiffe.

Das Wasser im Freibad ist eiskalt und blau. Meine erste Freibad-Pommes habe ich mir hart erkämpft am Kiosk in der Schlange hinter der Hortgruppe und zwischen 8-Jährigen, die sich beim vergeblichen Entziffern der Eiskarte unerbittlich gegenseitig verarschen und unermüdlich darüber diskutieren, was man für 1,50€ alles kaufen kann, während die Geldstücke ständig aus den klebrigen kleinen Händen auf die Betonplatten fallen.

Der Iced Latte und Stachelbeerstreuselkuchen sind gut. Die Blumen auf dem Tisch im Eingangsbereich leuchten mit der Vase um die Wette und auch die andere Bedienung summt mit zur Musik.

Magdeburg, es war schön mit dir.

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Leben

Magdeburg Memories

Das erste Mal war ich 2007 mit meinem Vater vor dem Abitur in Magdeburg, weil ich hier Philosophie-Neurowissenschaften-Kognition (PNK) studieren wollte. Ich hatte ein „Gehirn&Geist“-Abo und irgendwie war in dieser Zeit gesellschaftlich alles mit Gehirnforschung irgendwie angesagt – FMRT und so – und mir war noch nicht klar, wie populärwissenschaftlich das alles war. Ok, ich war jung und naiv und neugierig.

Es kam dann alles anders – mein damaliger Freund studierte schon in Dortmund, Statistik, you better run – und irgendwie bin ich anscheinend eher der Typ Mensch (gewesen), der anderen folgt, als das ihm andere folgen. Die Anpassung geht dann aber eben nur so lange sie geht und am Ende ziehe ich alles durch, was ich will.

2011 bin ich dann doch in Magdeburg gelandet. Mein inneres Coming out lag kurz vor dieser Entscheidung und der Fachrichtungswechsel war irgendwie eine versuchte Transition – von einem eher „weiblich“ konnotierten Studienfeld hin zu einem überwiegend „männlich“ assoziierten Bereich. Dass mich niemand als „Junge“ oder „jungen Mann“ wahrgenommen hat, hat mich irgendwie unbewusst enttäuscht und irritiert – auch wenn das damals lächerlich war, überhaupt zu denken, weil mir das alles selbst gar nicht so genau klar war.

Mit in dieses neue Leben hatte ich auch meine alte Beziehung genommen, die wenige Monate zuvor begonnen hatte. Mittlerweile erscheint mir das Ganze total absurd und surreal, wie ein anderes Leben – was es ja auch irgendwie ist. Heiraten, Kinderwollen – das kam wie angeschaltet. Rückblickend wie eine Art Wahn oder Film, der einfach abgelaufen ist. Überwiegend ist mir diese Beziehung, dieses Leben jetzt peinlich.

Mit einer anderen Person und selbst als eine andere Person hier zu sein, fühlt sich größtenteils leicht und vertraut an. Mir fällt auf, wie anstrengend und lang mir Wege vorgekommen sind, wie sehr ich mich abgehetzt habe, weil ich so angewiesen war auf mein System, Dinge zu tun. Kein Moment der Entspannung, weil einfach immer zu viel innere Anspannung. Ein bisschen fühlt es sich wie Verrat an der getrennten Person an, Orte und Situationen zu überschreiben und neu zu besetzen, und ein bisschen seltsam der verbundenen Person gegenüber, für die die neue Schicht die erste ist.

Ich erinnere mich, wie ich mein Fahrrad über die vereiste Domplatte geschoben habe. Wie wir mal im Winter im Park gegrillt haben. Wie ich mich unter Leuten einfach immer unwohl gefühlt habe. An das Hochwasser, wo ganze Stadtteile überschwemmt waren, die Sandsäcke, die Ungläubigkeit. Die Jugendlichen um die Ecke, die mir zugerufen haben „Iiiih, die Hässliche.“ Den seltsamen Mitbewohner, der mit seinem Essen in seinem Zimmer vergammelte. Wie ich mich in meinem Zimmer versteckt habe, um meine andere Mitbewohnerin möglichst nie zu treffen. Die Gebärdensprachdolmetscherinnen meiner schwerhörigen Kommilitonin, die K-Pop-Fan war und wegen der ich DGS gelernt habe. Über die ich “Queer as Folk“ kennenlernte und wie ich total fasziniert von gay romance in “Glee“ war. Wie wir ab und an in ihrem winzigen Zimmer asiatisch gekocht haben und es das Nächste an Freundschaft war, das ich zu der Zeit konnte. An den Mitstudenten, der mir immer „Viel Erfolg“ gewünscht hat, wenn ich aufs Klo wollte, was ich maximal unangenehm fand, und den ich darum beneidete, dass er sein T-Shirt bei über 30 Grad während der Thermodynamikklausur ausziehen konnte und generell um sein männliches Entitlement. 

Nördlich der Stadt ist die Brücke über dem Fluss, wo wir – super cringe – ein Schloss befestigt haben und es kurz danach nicht wiederfinden konnten. Dilettantisch hatte ich unsere Initialen hineingeritzt, weil wirklich Geld ausgeben wollte ich für so einen Quatsch dann doch nicht. In der Stadtmitte das Kinderwunschzentrum neben dem Brunnen mit den Spritzen, der Aufregung, der Verzweiflung. Die Apotheke in Halle, wo ich einen Test kaufen wollte, und völlig fertig mit den Nerven war. Das Warten auf den Anruf, wie viele Zellen es geschafft haben. Das Warten auf den Anruf, ob es geklappt hat. Das christlich angehauchte Gästehaus in dem heißen Sommer mit letzten Klausuren, in dem ich heimlich schwanger und nur für die Prüfungen wieder angereist war. Eine Klausur unter krass schlimmen Schmerzen geschrieben und Podcasts über die lahmste Internetverbindung der Welt runtergeladen. Die erste Rückkehr mit Baby zur Verteidigung im nächsten Jahr. Das nächtliche Umhergehen auf dem Flur der Jugendherberge, um endlich Schlaf zu finden.

Ich weiß noch an welcher Stelle in Buckau ich zu B. bei einem meiner unendlichen abendlichen Spaziergänge durchs Telefon sagte: „Irgendwann muss ich mal eine Therapie machen. Vielleicht so eine Art Körpertherapie, denn so kann ich nicht dauerhaft leben. Ich muss das alles mal sortieren und loswerden, um irgendwie frei zu werden.“ Ich weiß noch zwischen welchen Straßenbahnstationen ich die SMS an S. schrieb: „Das klingt vielleicht komisch, aber kannst du mich ‚Tom‘ nennen?“ 

Einsilbige, kurze Namen, beste Namen. Mein Onkel Thomas aus Köln, von dem wir nicht wissen, ob er schwul ist, mit dem ich gerne befreundet gewesen wäre, aber daraus wurde nichts. Onkel Tommy aus „Luzie Libero“ –  es ist ein bisschen lustig, jetzt ist mir der Name total fremd.

Vorgestern im ‚Neuzeit‘, in der Jetztzeit bedient uns eine junge Frau mit Berliner Pony und ist so freundlich und cool, dass ich mich wieder mal frage, ob es in irgendeiner Form, mit einem anderen Style eine Möglichkeit gegeben hätte, im mir zugewiesenen Geschlecht zu verbleiben, eine Art Sein zu finden, das irgendwie für mich gegangen wäre und einen Sinn, eine Stimmigkeit ergeben hätte. Das ich irgendwie lesbar geworden wäre für mich und andere. Aber am Ende hätte das vielleicht eine temporäre Maskerade sein können, die ich wahrscheinlich eh nie zustande gebracht hätte, weil verkleiden einfach noch nie mein Ding war und niemand – schon gar nicht ich selbst – mir das abgekauft hätte.

Vielleicht muss ich erst noch lernen, Frauen sympathisch und attraktiv zu finden – ganz ohne irgendeine Idee davon, was ich davon hätte sein können. Es ist ein bisschen, wie vor der Transition mit eher männlichen Personen, wo die Grenze zwischen „Ich finde diese Person anziehend“ und „Ich will diese Person sein“ undefinierbar war.

Auch wenn Vieles hier nicht super gut war, fühle ich mich tief verbunden und vertraut mit dieser Stadt. Weil es meine ureigne Entscheidung war, hier zu sein, weil ich mir hier etwas beweisen wollte, weil ich hier jemand Neues und Anderes sein konnte. Weil es ein Bruch war mit dem Davor, das primär durch Dritte bestimmt war. Es war eine kurze, erste Phase von Lennigkeit, für die ich noch nicht ganz bereit war.

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Elternschaft

Kinderwünsche

Wenn aus der Sicht von Kind 2 etwas komplett schief gelaufen ist (und Kind 2 schreit und tobt und schlägt und stampft), wünscht es sich oft, dass ich die Zeit zurückdrehen soll. Um noch einmal neu zu beginnen ab da, wo die falsche Entscheidung getroffen, die falsche Handlung ausgeführt wurde.

Und ich fühle es. Ich wünschte, ich hätte die Muffins nicht schon ohne Kind 2 am Nachmittag gebacken, obwohl mir insgeheim klar war, dass es sehr sehr wütend und enttäuscht sein würde, weil es das gerne mit mir zusammen machen wollte. Verständlicherweise.

Ich wünschte, ich könnte Kind 1 anders abgestillt haben als mit Fertigwaffeln vom Discounter. Ich wünschte, wir hätten von Beginn an mehr Rituale für Körperpflege eingeführt. Ich wünschte, ich hätte meine körperlichen und psychischen Grenzen in der Kernfamilie besser wahren können, um nicht in diese Überforderung zu geraten, die u.a. zu diesen Dingen oder ihrem Ausbleiben geführt hat. Ich wünschte, wir hätten es als Elternpaar besser geschafft, uns Freiräume zu geben, um mehr Kraft für das Durchsetzen eigener Bedürfnisse übrig zu haben.

Es ist nie zu spät, Dinge zu verändern, die schlecht laufen oder bei denen ich mich unwohl fühle. Es ist noch nicht unmöglich, ein weiteres Kind zu bekommen – in einer Konstellation, die ich für mich als adäquater einschätze, und ein #lebenmitkindern zu leben, das ich mir wünschen würde.

Als ich unbedingt (!) Kinder wollte, wusste ich nicht, was das bedeutet oder welche Alternativen Familienformen es gegeben hätte, die vielleicht besser zu mir passen. Primär wollte ich Kinder, um mir und anderen etwas zu beweisen. Dass ich nach den Jahren der Essstörung überhaupt Kinder bekommen kann. Und ich wollte jung Elter werden, um meinen ideologischen Standpunkt zu demonstrieren, dass das das „richtige“, das „gute“ Alter ist. Nicht wenn mensch fertig ist mit allem als Krönung und Fortsetzung der eigenen Existenz, sondern im unfertigen Werden.

Jetzt würde ich noch einmal ein Kind bekommen, um als trans maskuline Person ein Exempel zu statuieren. Um es zu machen, weil es geht und um zu wissen, wie es ist. Wie die Leute reagieren – ja, es geht wieder um einen radikalen, demonstrativen Akt. Dazu kommt, dass ich Schwangerschaften und Geburten als sehr empowernd erlebt habe, und die alten Motive immer noch wirksam sind. Ich weiß, mein Körper kann das und das auch noch sehr gut. Es war und wäre eine weitere körperliche Grenzerfahrung, die mich fasziniert.

Ich weiß, dass das alles höchst unmoralisch ist. Vielleicht ist es komisch oder lächerlich – verwerflich, überhaupt so etwas zu denken und dann auch noch zu wollen. Aber es ist so. Und irgendwie habe ich meinen Frieden mit diesen Motiven und dem Wissen darum gemacht. Nicht alles, was gedacht und gewollt wird, muss gemacht werden. Und dennoch.

Zuletzt kam in queeren Kontexten mit Kindern der Wunsch, die Idee plötzlich wieder auf. Weil sich meine Carearbeit in diesen Settings stark reduziert hat, weil meine Kinder dort selbst beschäftigt und selbstständig sind. Weil es da süße Babys gibt und coole andere Eltern und sogar Paare, die irgendwie gut zusammen und mit ihren Kindern klarzukommen scheinen. Und dann denke ich, ich würde gerne ein Kind mit solchen Leuten bekommen oder vielleicht besser noch für sie.

[Kleiner Exkurs: Dabei ist mir aufgefallen, wie befremdlich (und eklig) ich die Vorstellung finde, „fremdes“ Sperma in meinem Körper zu haben – also von einer Person, mit der ich nicht in einer romantischen und/oder sexuellen Beziehung bin. Darüber hatte ich bisher noch gar nicht nachgedacht. Ob ich demisexuell bin, habe ich mich auch schon häufiger gefragt – nur ein loser Zusammenhang. Ich hatte und habe in meinem Leben einfach sehr wenige körperliche Beziehungen zu Menschen – auch jenseits von Sex – und ausgenommen der zu den Kindern, die ja lange Zeit quasi konstant auf 1 leben.]

Für mich ist vollkommen klar, dass ich auf keinen Fall noch einmal die komplette Carearbeit und Verantwortung für ein Kind (alleine) übernehmen will. Ich wäre gerne der Freizeitdaddy oder fun uncle, wo ich dosierter und selbstbesftimmter Zeit mit Kindern verbringen und gleichzeitig (überforderte, müde und gestresste) Eltern entlasten könnte – regelmäßig, zuverlässig und auch bei Krankheit und im Alltäglichen -, weil ich weiß, wie hilfreich das sein kann und wie oft Eltern am Limit sind.

Anders gesagt: Ich wünschte, ich hätte keine oder anders Kinder bekommen oder in meinem Leben, als ich es jetzt habe. #regrettingparenthood beschäftigt mich immer wieder. Oft habe ich keinen Spaß mit meinen Kindern. Ich finde die meisten Dinge extrem anstrengend, nervig oder langweilig, die den Alltag ausmachen. Es gibt Momente, die ich wirklich schön finde – es sind wenige. Und meistens gehen sie in den anderen 85%-nicht-schön unter.

Hätte ich Co-Elternschaft damals gekannt, vielleicht hätte ich es versucht. Andererseits hätte ich mich wahrscheinlich zu dem Zeitpunkt sozial gar nicht in der Lage gefühlt, so etwas mit anderen anzugehen. Und natürlich kann ich Entscheidungen in der Vergangenheit nicht mit dem Wissen und der Erfahrung von heute beurteilen.

Jetzt kenne ich niemanden, mit dem ich das oben beschriebene Experiment durchführen könnte. Was vielleicht auch gut ist, weil es ethisch fragwürdig wäre, ein Kind aus den genannten Gründen zu bekommen. Die Frage ist, welche „guten Gründe“ andere Menschen haben. In cis-hetero Kontexten scheint es mir oft so, als ob es gar keine tiefergehenden Gründe braucht, weil „macht man halt so“ oder „passiert halt“.

Teilzeit-Ein-Elter-Sein ist auch einfach strukturell schlecht. Es ist besser als vorher, weil es mir mehr Autonomie und Gestaltungsmöglichkeiten einräumt. Darüber hinaus wünsche ich mir so sehr, in ein Netz aus anderen Eltern und Menschen eingebettet zu sein, wo zusammen gekocht, gespielt und geredet wird. In meinem Alltag fehlen mir einfach erwachsene Menschen, mit denen ich mich austauschen, abwechseln, auskotzen und abgleichen kann. Die andere Räume eröffnen und Impulse geben – mir und den Kindern. Menschen brauchen andere Menschen – weniger Materielles und Mediales.

Alle bleiben in ihren Kleinfamilien, ab und zu tauscht man mal Kinder oder trifft sich auf dem Spielplatz. Andererseits weiß ich nicht mal, ob ich überhaupt für etwas Kollektivistischeres geeignet wäre. Wahrscheinlich nicht. Viel macht wahrscheinlich auch die Wohnsituation aus. Wie groß ist die Wohnung (gibt es Rückzugsräume), gibt es einen Garten oder die Möglichkeit, „einfach“ draußen zu spielen, wohnen andere Kinder in der Nähe, sind die Erwachsenen kompatibel.

Ohne die Erfahrung der Elternschaft wäre ich nicht die Person, die ich jetzt bin. Wahrscheinlich hätte ich mich aus mir selbst heraus nicht so gepusht, was die Reflexion meines Verhaltens angeht – vielleicht aber schon in anderen Kontexten. Ich würde gerne noch so viel Neues, Anderes ausprobieren, wozu mit Kindern einfach die Zeit und der Raum fehlt. Ich hasse es, meine Interessen zurückstellen zu müssen.

Warum manches, was für andere vielleicht Standard ist, bei mir hinten runtergefallen ist und weiter fällt, ist, dass ich bestimmte Dinge, die für mich essentiell / existenziell sind, einfach knallhart durchziehe – no matter what. Studium / Beruf, Sport / Bewegung, Safe / Same Food sind Lebensbereiche, bei denen ich kaum bis keine Kompromisse mache(n kann).

Manchmal frage ich mich, ob ich meine Prioritäten falsch setze oder Ressourcen schlecht verteile. Eine für alle möglichst passende Bedürfnisbalance herzustellen, ist aber auch einfach eine krasse, kaum stabil zu schaffende Aufgabe. Und mehr kann ich anscheinend nicht geben. Ich kann mich anstrengen, reflektieren und verändern, womit ich seit Jahren täglich beschäftigt bin – individuelle und gesellschaftliche Rahmen- und Randbedingungen kann ich kaum beeinflussen.

Da ich – wie ich Kind 2 regelmäßig zu dessen weiterer Frustration erklären und gestehen muss – die Zeit nicht zurück drehen kann, wünsche ich mir, dass ich noch mehr Frieden mit mir und meinem Eltersein schließen kann und die Kraft und Ressourcen finde, um die Dinge zu verändern, die zu einem für mich passenderen und angenehmeren Leben mit Kindern führen.

Aber vielleicht bleibt auch das einfach ein kindlicher Wunsch.

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Leben

Ambivalenzspektrum

Ich denke, ich bin ein eher konfliktscheuer Mensch. Ich neige eher dazu, mich nach außen hin anzupassen, still zu sein und zu beobachten, wie es so läuft, bis ich die Situation und Menschen, meine Position und Handlungsoptionen darin besser einschätzen kann. In der Vergangenheit ist es mir oft passiert, dass ich meine Grenzen nicht gekannt und nicht kommuniziert habe. Dass ich und andere darüber hinausgegangen sind und ich es ausgehalten habe, bis es nicht mehr ging. Ich will keine „Umstände“ machen und nicht als „komisch“ wahrgenommen werden, weil ich Angst vor Ablehnung und Abwertung habe, wenn ich für meine Bedürfnisse einstehe. In der Konsequenz habe ich viele Situationen und Menschen auch einfach gemieden, die mir Angst gemacht haben. Dieses Ausweichen führte dann zu Scham und Schuld bei mir und Ärger und Enttäuschung bei anderen, weil ich „es“ nicht konnte.

Es gibt eine Handvoll Situationen in meinem Leben, die aufgrund ihrer emotionalen Intensität in diesem Kontext in mir versammelt sind. Und wenn sich wie zuletzt ein neuer Konflikt dazu gesellt, glimmen die alten noch einmal auf und sagen Hallo. 

„Krise als Chance“ heißt es so schrecklich in Küchenpsychologie und Politik. 
Erst in den letzten paar Jahren, vielleicht erst Monaten bin ich tatsächlich soweit in meiner Selbstreflexions- und Abstraktionsfähigkeit gekommen, nicht mehr in meinen akuten Gefühlen bei sozialen Konflikten verloren zu gehen. Gefühle von Angst, Panik, Scham, Schuld, Wut, Ungerechtigkeit, Abwehr, Verletztheit, Kränkung sind immer noch da. Aber es gelingt mir diese bewusster wahrzunehmen, sie zu benennen und ihr zyklisch-sequentielles, retardierend-kontinuierendes Auftreten mit einer gewissen Distanz zu beobachten.

Und was sich erst wieder wie ein Scheitern anfühlt, was es auch ist, und eine Art Rückfall und Rückkehr zu einer „unperfekten“ Version von mir, die ich nicht sein will, trete ich dennoch nicht auf der Stelle, weil die Umstände andere sind und ich ein anderer geworden bin. Es ist so frustrierend und peinlich, fehlbar zu sein. Den stimmigen Punkt von berechtigter Kritik an meinem Verhalten, für das ich die Verantwortung übernehmen muss und will, – zwischen vollständiger selbstzerknirschter Annahme und totaler selbstschützender Abwehr – in mir und der Situation zu finden, ist so unfassbar schwer. Weil es keine Objektivität und Wahrheit jenseits einer intersubjektiven Verständigung darüber gibt, weil all diese Gefühle, gesellschaftlichen und politischen Randbedingungen, historischen und situativen Kontexte ihren Einfluss haben auf das, was wir als individuell und immanent erleben.

Ausgerechnet hatte ich noch etwas über „Skripte“ gelesen – als ein Tool und Beschreibungsinstrument für soziale, normierte Interaktion. Wie viel von dem, was wir sagen, denken und tun, ist wirklich „authentisch“, „individuell“? Wir sind schon vor unserer Geburt eingebettet in Strukturen, die in uns eingeschrieben sind und ständig neu- und umgeschrieben werden. Für mich als Fanboy des Konzeptes „Performativtät“ fügt sich das gut in mein Weltbild ein. Es gibt für alles eine Art Vorschrift / Gerüst, wie es zu tun ist, bleibt aber in der Ausführung offen und flexibel für Adaption durch die Ausführenden (siehe auch (Epi-)Genetik). Es ist wie mit Wittgensteinschen „Familienähnlichkeiten“: Es gibt ein Konzept „Stuhl“ oder „Spiel“, aber nie ließen sich alle Eigenschaften genau definieren, die kein Gegenbeispiel möglich machten.

Im Rahmen von Geschlecht oder Neurodivergenz fällt oft der Begriff „Spektrum“. Ich denke viel über Ambivalenz und die Gleichzeitigkeit von scheinbar gegensätzlichen Dingen, gerade Gefühlen nach. Für sehr viele Fragen, die mich beschäftigen, kann ich zwei binäre Pole definieren, die die Enden eines Spektrums darstellen und ein potenziell unendliches Dazwischen eröffnen. Und irgendwo in diesem Dazwischen bin ich, in vielen Dimensionen.

  • Abwehr – Annahme 
  • Distanz – Nähe
  • Autonomie – Bindung
  • Verletzlichkeit – Intimität
  • Wut – Zuneigung
  • Stärke – Schwäche
  • Abgrenzung – Anpassung
  • Weiterentwicklung – Komfortzone
  • Überforderung – Safe Space
  • Skripte / Automatismen – Individualität / Authentizität 
  • Gesellschaft  – Individuum
  • Scheitern / Fehlbar sein – Gut sein / Gemocht werden
  • Selbstbild – Fremdbild
  • Abwertung – Überhöhung
  • Selbstverwirklichung – Sicherheit
  • Alien sein – Privilegien besitzen
  • Resilienz / Klarkommen – Therapie / Unterstützung brauchen
  • Verhalten / Performance  – Identität / Charakter
  • Sichtbar queer sein – Passing / Unsichtbar sein

Am besten kann ich mir das mit Farben im Raum vorstellen. Das Farbspektrum jedes Spannungsfeldes wird durch die definierten Farben der zwei Pole vorgegeben. Wie groß die einzelne „Wolke“ ist, wie kräftig die Farben sind, welche Mischung sie hat, wo das Epizentrum liegt, wo eine einzelne Farbwolke im Verhältnis zu den anderen ist, verändert sich biografisch und situativ. Davon abhängig gibt es auch Anziehung, Abstoßung und generell Spannungen zwischen den einzelnen Farbwolken, die unabhängig von der inneren Dynamik jeder einzelnen diese von Außen als Teil eines aufeinander bezogenen Systems beeinflussen.

Ich fände es toll, davon eine Visualisierung machen zu können. Wenn ich jeden Tag mein persönliches, aktuelles Wolkenfeldspektrum bestimmen und betrachten könnte. Wie sich die Farbverläufe, -intensitäten, – mischungen, Größen, Positionen, Überschneidungen, generell Beziehungen der Wolken im Laufe der Zeit verändern. 

Ich glaube, das ist, was Leben so anstrengend macht. Ständig eine Balance herzustellen, zwischen den ganzen inneren und äußeren Anforderungen und Bedürfnissen, ein stimmiges Gleichgewicht der Farbwolken zu finden, ein harmonisches Bild – ohne dass es ständig regnet, blitzt und alles zur Unkenntlichkeit verläuft.