[Inhaltswarnung: Diese Rezension enthält viele inhaltliche Details des Romans „Die lange Reise zu einem kleinen, zornigen Planeten“ von Becky Chambers.]
Sehr lange wollte ich gar keine Science Fiction lesen oder sehen.
Weltraum, andere Spezies und Welten schienen mir völlig unnötig – denn auf der Erde gibt es ja schon genug zerstörerische, „vernunftbegabte“ Lebewesen, politische, oppressive Systeme, strukturelle, offenkundige Missstände etc. Warum noch neue erfinden?
Unter anderem über den Genderswapped Podcast von Judith Vogt und Lena Richter bin ich auf den Wayfarer-Zyklus von Becky Chambers aufmerksam geworden. Da ich davor schon ein bisschen – ok, erst widerwillig – Star Wars gesehen hatte und begeistert von der Serie „Lost in Space“ (ein bisschen auch von „Foundation“) war, wollte ich den Büchern eine Chance geben. Bisher habe ich die ersten beiden Bänder gelesen. Und: Mit der Crew von Buch I würde ich sofort im All leben wollen.
Was mich besonders an dem Roman „Die lange Reise zu einem kleinen, zornigen Planeten“ begeistert, ja glücklich, hoffnungsvoll und utopisch gestimmt hat, ist die raumgreifende Herzlichkeit (von „Menschlichkeit“ kann mensch angesichts der verschiedenen beschriebenen Spezies schlecht sprechen und auch nicht mit Blick auf die politische Aushöhlung dieses Begriffs). Nahezu alle Wesen handeln aus ernsthaft guten Intentionen und Gefühlen heraus. Beziehungen – auch interspeziäre – sind grundlegend von gegenseitigem Respekt, Empathie und Verständnis füreinander geprägt. Es klingt unglaublich kitschig, aber ich habe das beim Lesen als so wohltuend und heilsam empfunden, weil es weder in der Realität, noch in anderen Medien so durchgängig und authentisch vorkommt. Oft geht es „um der Spannung willen“ (oder aus welchen Gründen auch immer) um Intrigen, interpersonelles Drama, Machtausübung und -missbrauch, „Gut gegen Böse“ etc. Ich kann verstehen, warum solche klassischen Narrative interessant sein können, mich spricht das wenig an, da ich selbst an diesen Dingen kein Interesse habe – weder in meinem persönlichen Leben noch in meiner Freizeit, weder diese Dinge selbst zu tun, noch andere sie tun zu sehen.
Ich liebe an diesem Roman, dem gesamten Wayfarer-Universum, besonders die verschiedenen nicht-menschlichen Spezies mit ihren differenten und differenzierten Kulturen, Sprachen, Ausdrucks- und Kommunikationsformen, wie sie soziale Beziehungen gestalten, Geschlecht, Sexualität und Reproduktion verstehen und leben. Es ist eine solche Bereicherung andere, vollkommen realistische Entwürfe von Identität, Familie und Gefühlsexpression so detailliert und überzeugend beschrieben zu lesen – jenseits von menschlichen Organisations- und Wissenssystemen, die ich selbst oft als einschränkend, mangelhaft und diskriminierend empfinde.
Die ausgeprägte, in vielen Teilen körperliche Intimität der Aandrisks erscheint mir so erstrebenswert, genauso wie ihre Konzepte von Nest-, Feder- und Hausfamilie, wo Kinderbekommen und -aufziehen sich viel stärker an erwachsenen Bedürfnissen in unterschiedlichen Lebensphasen orientiert – was u.a. auch dadurch erst möglich ist, dass die Schlüpflinge von Anfang an selbstständiger sind und weniger auf Erwachsene angewiesen sind, zu denen sie aufschauen und sie imitieren – ohne dabei Forderungen an sie zu stellen. Es ist einfach eine sehr schöne polyamore Kommunefantasie, in der Carearbeit nebensächlich gut organisiert ist.
Besonders berührend fand ich zum einen eine Szene, wo die Aandrisk Sissix einer älteren Aandrisk, die aufgrund von kommunikativer und sozialer Andersartigkeit vereinzelt (und ausgeschlossen) lebt, (auch physisch-sexuelle) Fürsorge und Liebe schenkt. Besonders intime, komplexe Gefühle können Aandrisks über Gesten, ohne Worte miteinander austauschen – was für eine großartige Vorstellung.
Zum anderen bietet Rosemary, eine Menschenfrau, die als Verwaltungsassistentin auf dem Tunnelerschiff anfängt, Sissix ihre körperliche Zuwendung an, nachdem sie Sissix mit anderen Aandrisks auf ihrem Heimatplaneten in ihrer Federfamilie – glücklich und entspannt – erlebt hat und erkennt, wie sehr die Aandrisk diese intensive Intimität unter anderen Spezies vermissen muss. Sissix lebt ihre Zärtlichkeit vorher in Teilen am Kapitän des Schiffes, Ashby Santoso, aus, indem sie ihre Wange an ihm reibt oder ihn an der Schulter berührt – Gesten der Zuneigung, die – aus menschlicher Wahrnehmung – nicht ihrer professionell-freundschaftlichen, rein platonischen Beziehung entsprechen, was er annimmt bzw. geschehen lässt.
Ashby selbst lebt in einer Fernbeziehung mit einer Äluonerin, Pei, mit der er nur sporadisch zusammenkommen kann. Die ebenfalls sehr interessante Geschlechterordnung, Familienpolitik, Sprach- und Gefühlskultur der Äluoner*innen spielt in Buch II eine stärkere Rolle. In Buch I ist aber bereits zu erfahren, dass diese Spezies ursprünglich keine Lautsprache besitzt – aber nun Sprachboxen in ihren Kehlköpfen benutzt, um mit anderen Spezies zu kommunizieren -, sondern über Farben, die auf ihren Wangen sichtbar sind, miteinander sprechen.
Eine weitere, interspeziäre sehr intensive Liebesverbindung besteht zwischen dem kleinwüchsigen Comptech, Jenks, und der gefühlsbegabten KI des Schiffes, Lovelace, genannt Lovey. Um sich noch näher sein zu können, überlegen die beiden über den Roman hinweg, ob Lovey aus den Kommunikationssystemen der Wayfarer in ein Bodykit wechseln könnte bzw. möchte – was gesetzlich verboten ist. Unglaublich interessante Fragen wie „Ist eine KI (auf einem sehr hohen Funktionsniveau) ein vernunftbegabtes Wesen?“, „Ist ein Körper für eine Liebesbeziehung notwendig?“, „(Wie) Ist Intelligenz und Identität an eine physische Existenzform (Embodiment) gekoppelt?“ werden in Teil II des Wayfarer-Zyklus intensiv und innerhalb einer spannenden Storyline behandelt.
Der Koch des Schiffes ist ein Grum, eine Spezies, bei der zu Beginn des Lebens alle Wesen weiblich, also Töchter und Mütter sind, und die sich dann in der Mitte des Lebens zu Männern entwickeln. Grums sprechen an sich multitonal, mit zahlreichen schwingenden Stimmbändern gleichzeitig und Gedanken werden ebenfalls immer laut in Tönen und Geräuschen gedacht. Um mit den anderen Spezies auf Klip, eine Art Englisch oder Esperanto, sprechen zu können, reduziert Dr. Koch seinen komplexen Lautapparat auf möglichst eindimensionale Schallwellen.
Zur Crew gehört außerdem noch ein Sianatpaar, das im Plural angesprochen wird, da sie von einem Virus infiziert sind, das für den Großteil der Spezies als heilig gilt, ihnen besondere navigatorische Fähigkeiten verleiht, aber sie auch nach und nach töten. Die Pronomen und der Glaube von Ohan werden von allen respektiert und geachtet, auch als sich am Ende herausstellt, dass es ein Heilmittel gegen das Virus gibt, das Ohan wieder gesund und zu einem Individuum machen könnte – was erstmal als ein Akt der Häresie erscheint.
Generell wird innerhalb der Galaktischen Union (GU) über alle nicht-geschlechtlich verortbaren Wesen erst einmal mit geschlechtsneutralen Pronomen „ser/sir“ gesprochen.
Es ist nicht alles „heile Welt“ in „Die lange Reise zu einem kleinen, zornigen Planeten“ – gerade zum Ende verdichten sich konfliktbehaftete Szenen. Die Quelin und Toremi sind keine besonders friedlichen Spezies – und dennoch erscheint mir ihre Brutalität und Orthodoxie glaubhaft und redlich, da sie nachvollziehbare Überzeugungen vertreten und nach diesen handeln – auch hier gibt es keine Scheinheiligkeit.
Der Kolonialismus durch die Harmagianer*innen liegt in der Vergangenheit, wird aber immer wieder indirekt und direkt thematisiert.
Interessant finde ich außerdem die entworfene Modder-Kultur, in der sich Menschen (und andere Spezies ?) körperlich modifizieren, um „ihr wahres Selbst“ hervorzubringen. Es geht dabei nicht um leistungsorientierte Optimierung, sondern um Selbstausdruck, also das technisch aus 1 hervorzuholen, was 1 in sich wahrnimmt.
Wenn es eine Sim gäbe, in der ich Teil des Wayfarer-Universums werden könnte, würde ich es sofort tun.