Kategorien
Elternschaft Literatur TRANS

Detransition, Baby

Dieses Buch hat mich so begeistert und umgehauen (rw).

Mir war nicht klar, welchen fundamentalen Unterschied es macht, wenn ein Buch von trans (femininen) Personen für trans (feminine) Personen geschrieben wird und sich nicht primär an ein cis Publikum richtet. Gedanken, Ansichten und Wahrheiten, die sonst vielleicht nur im Vertrauen zwischen trans* Personen ausgetauscht werden, können in ihrer ganzen Schmerzhaftigkeit, Aufrichtigkeit und Ambivalenz geäußert und diskutiert werden – in einem „sicheren“ fiktionalen Rahmen, der (fast) alles darf. Ich fand es wirklich überwältigend (gut) und mir war nicht klar, wie sehr mir diese Form der Repräsentation gefehlt hat.

Herausragend finde ich die Darstellung von und den Umgang mit Ames’/Amys (De)Transition. Reeses gnadenlosen Blick darauf und Ames’/Amys eigene Beschreibungen seines/ihres Erlebens von Sexualität, Begehren und Körperempfinden. Die Poppers-Szene, den Anzug und den treuen Hund werde ich nie vergessen. Ich finde es meisterhaft, wie stimmig Namen und Pronomen wechseln.

Reese ist einfach die coolste Person. Ihre „Mom-Schwärmerei“, ihre Kompromisslosigkeit und Klarheit in Bezug auf sich selbst und andere. Ihre kritische Analyse von Katrinas plötzlich entdeckter Pseudo-Queerness als willkommene Medikation für ihre Midlife Crisis als geschiedene cis-hetero Frau und der scheinbar utopischen Fiktion queerer Elternschaft.

Ich bin so gespannt auf „Nevada“ von Imogen Binnie, das der Ursprung dieses Genres und Buches war.

Meine liebsten Zitate

„Im ersten Jahr der Transition ging es, wie Amy festgestellt hatte, darum zu verstehen, wie sehr man sich selbst belogen hat. Wie unzuverlässig die eigene Selbsteinschätzung ist und wie wenig man die Selbstwahrnehmung aus der Vergangenheit für die Transition nutzen kann. Das Schlimmste war, dabei zuzusehen, dass die eigenen „Bewältigungsstrategien“, wie es in der Therapie heißt, nicht mehr funktionieren. Plötzlich kommt der Moment, vom man sieht, wie viel Angst man gehabt hat und wie groß der Schmerz war, mit dem man als Junge gelebt hat, ehe dieser Schmerz und die Angst dann wirklich zuschlagen und einen zerreißen. So wie in den Filmen aus den Fünfzigerjahren, wo Männer die ersten Atombombentests beobachten, erst das Aufleuchten und den aufsteigenden Pilz sehen, dann für den Bruchteil einer Sekunde noch die shivahafte Zerstörung bestaunen, bevor die Schockwelle ihre glühenden Körper rückwärts in die Luft katapultiert, zusammen mit der Kamera, die sie aufnimmt, bis man nichts mehr sehen kann, nur noch spüren.
Und dann entwickelt man neue Bewältigungsstrategien, eine neue Sprache, neue Mauern, hinter denen man sicher ist.“

S. 167/168

„Nichts von dem Geld würde an trans Menschen gehen. Die GLAAD konzentrierte sich wie die meisten großen schwulen Organisationen auf Botschaften und Lobbyismus: Das Geld war nicht für trans Menschen gedacht, es war dafür da, eine sachgerechte Diskussion über Themen wie trans Menschen zu unterstützen.
Entsprechend war in den Zeremonien und Vorträgen mit großer Emphase davon die Rede, dass es trans Frauen erlaubt sein müsse, öffentliche Toiletten zu besuchen. Reese interessierten öffentliche Toiletten einen Scheiß. Der Supreme Court hatte gleichgeschlechtliche Ehen gerade erst gesetzlich anerkannt. Diese cis Homos, die sich Trips nach Afrika ersteigern – ihr großer Siegt war innenpolitisch. Sie hatten die Optionen für die amerikanische Kleinfamilie neu geordnet und sich selbst das Geschenk der Hetero-Institutionen gemacht: Ehe und Elternschaft. Reese wollte für sich dasselbe – nein, tatsächlich wollte sie mehr. Wer braucht öffentliche Toiletten? Wir sind schon in euren Schlafzimmern, vögeln eure Ehemänner und benutzen eure Bäder, vielen Dank.
Reese interessierte eher, wie man ihr einen Ehemann besorgen und wie sie selbst Mutter werden konnte, wenn man sie schon im eigenen Schlafzimmer nicht haben wollte. Sonst machte sie es eben auf ihre Weise. Und weil sie es auf ihre Weise machte, war sie schließlich hier.“

S. 230/231

„[…] Also ganz im Ernst: Zählt eine Detransition genauso viel wie eine Transition, gebührt ihr genauso viel Respekt?“
Das ist ein Thema, bei dem sich die drei trans Frauen herzlich uneinig sind. Iris findet „Ja, absolut“. Thalia sieht das auch so, fügt aber hinzu, dass sich alle etwas vormachen, auch cis Menschen, und die einzige Möglichkeit, alle zu zwingen, aktiv über ihr Geschlecht nachzudenken, besteht darin, jedem Geschlecht gleich wenig Respekt entgegenzubringen. Theoretisch ist Reese auch für diesen Gleichheitsgrundsatz, praktisch respektiert sie zwar viele Geschlechter, Ames’ aktuelles allerdings überhaupt nicht.
In ihrem Herzen ist Ames für sie kein Mann. Sie kann einfach nicht glauben, dass Ames’ Detransition das ist, was sie zu sein scheint. Wie oft hat sie schon vor Amys Detransition miterlebt, dass sie Männlichkeit als schützenden Kokon benutzt hat? Reese hat früh in ihrer Beziehung gelernt einzuschätzen, wie unsicher Amy in dieser oder jener Situation ist. Das sah sie daran, wie viele Spuren aus ihrer Zeit als College-Bro Amy zur Schau stelle. In solchen Momenten wirkte Ames irgendwie blasser, und Reese wusste, dass sie Teile ihrer betäubenden männlichen Rüstung angezogen hatte.
Die Männlichkeit hatte Amy immer erlaubt, nicht zu fühlen. Kurz nach ihrer Transition war Amy vor dieser Taubheit geflohen und mit Reese eine Zeit lang wunderbar präsent und fragil gewesen. Aber sie hatte die Taubheit nie vollständig abgelegt und erkannte diese Eigenschaft später durchaus als nützlich. Iris sprach – als Sexarbeiterin – ähnlich über Dissoziation: die Superkraft, die ihr Erfolg garantierte, lukrativ war und heroisch, wo der Durchschnittssterbliche versagte und seinen Gefühlen erlag. Reese glaubte jedoch nicht an diesen Dreh. Sie konnte den dogmatisch radikalen Sprung nicht ganz nachvollziehen, mit dem Dissoziation vom Bewältigungsmechanismus zur Superkraft wurde.
Ganz hinten in Amys Schrank – den sie sich mal geteilt hatten – hing ein traumhafter Anzug von Zegna, klassisch schmal geschnitten, tiefschwarz und aus matter kardierter Wolle. Amy hatte ihn in ihrem letzten Collegejahr in einem Second-Hand-Shop gekauft, ihn von der Stange gerissen, an sich den Reservoir Dog entdeckt. Beim posttransitionären Aussortieren der Jungsklamotten hatte Amy den Anzug verschont, und ihm ein verborgenes Leben im hintersten Teil des Schranks zugestanden. Reese hätte den Anzug nur zu gern als sentimentales Andenken verstanden, nur dass Amy ihn viel zu selten tatsächlich getragen hatte, wenn Reese nach Hause kam, die Malamute-Augen tausend Meter in die Ferne gerichtet, um wie ein zwielichtiger androgyner James Bond herumzuschleichen.
Reese hatte weder im Allgemeinen noch im Besonderen Geduld mit diesem nostalgischen Männeraufzug. Zugleich hatte sie widerwillig Respekt für die Anzug-Amy, und sei es nur, weil die komplett dichtmachte und dadurch unverletzbar wurde, wenn sie ihn trug. Am nächsten Tag sorgte Reese jedenfalls dafür, dass Amy deshalb kleinlaut und verlegen wurde, wie man es mit einer verkaterten Freundin macht, deren sorgloses Betrinken am Vorabend dir grollende Ehrfurcht abverlangt hat.
Mit der Detransition war Amy über die unerreichbare Distanz langsam erstarrt. Sie war jetzt an einem Ort, wo Reese sie nicht mehr berühren konnte, um sie erneut zu verletzen. Hier geht es nicht um Gender, würde Reeses Schuldgefühl argumentieren, hier geht es um Schmerz. Jeder Schmerz verdient Zuwendung, aber keinen dogmatischen egalitären Relativismus.“

S. 310ff.

„Diese Fantasie muntert Reese auf und hilft ihr, eine wispernde neue Angst zu vertreiben: dass Katrina in ihren spitzfindigen Enddreißigern die Fantasie hegt, Queersein könnte ihre Rettung sein. Dass Katrina in dem Wirbelsturm aus Scheidung, Schwangerschaft und überraschender Transgeschlechtlichkeit den Halt verloren hat und jetzt in den dunklen Gewässern gescheiterter Heterosexualität treibt und nach etwas tastet, woran sie sich festhalten kann, und sei es queere Elternschaft. Wie Katrina über gemeinsame Elternschaft sprach, hatte etwas Utopisches, so wie gerade geoutete Queers mit der größten Inbrunst von romantischer Liebe und Vorlieben sprechen, ohne zu ahnen, was für Dornen das queere Leben bereithält. In ihren paranoiden, grausamen Momenten machte sich Reese schon darauf gefasst, dass Katrina sie fallen lassen würde wie ein queeres Mädchen, das ihr Verlangen nach einem heterosexuellen College-Girl zu zügeln versucht, das ihre Küsse begeistert erwidert hat, nachdem ihr beschissener Freund sie gerade verlassen hat.“

S. 359/360

„In der Küche knackten Reeses Knie, als sie neben dem Regal in die Hocke ging, um das Buch zu finden. Hellgelbes Cover, illustriert mit einem Spitztüten-BH und einem Schnuller. Sie drehte es um und las den Text auf der Rückseite: Dieses Buch beschreibt, wie es ist, zugleich Mutter und Nicht-Mutter zu sein … die Gefühle von Neid und Verlust, die Frauen haben, wenn sie gern schwanger werden würden, aber es nicht können, während ihre Partnerinnen ganz selbstverständlich schwanger werden.
Das hatte Maya gelesen? Und Katrina auch?
Reese fühlte sich gesehen, wenn nicht entblößt.
Doch trotz ihrer Mom-Schwärmerei kam Reese das Etikett „lesbische Mutter“ unpassend vor. Sie war etwas entgeistert, dass ihr Weg zur queeren Elternschaft mit Ratschlägen von cis Lesben beginnen sollte, die ihre Mutterschaft verachteten, und es gelang ihr nicht, das höflich zu überspielen. Jedes Mal, wenn sie ihren Wunsch äußerte, Mutter zu werden, kamen ihr die Leute mit einer politischen Bewegung, die seit dreißig Jahren darauf pochte, dass sie nicht dazugehörte – warum? Abgesehen davon, dass sie offensichtlicher- und angemessenerweise nie mit Katrina geschlafen hatte und das auch weder plante noch wünschte. Sie waren kein lesbisches Paar. Sie waren ein Mutter-Paar. Mit Mom-Schwärmerei. Das war etwas anderes. Und es war wichtig, dass Maya das kapierte.“

S. 366

„Und plötzlich begreift Reese, was hier vor sich geht. Das Wort „heteronormativ“ sagt ihr, was hier gespielt wird. Sie dachte, sie würde hier geoutet. Aber nein, Katrina outet sich ihren Freundinnen gegenüber als queer. Deshalb ist sie so offensiv. So verhalten sich Queerbabys. Die konfrontative Beteuerung als Grenzziehung: So bin ich nun mal, hast du ein Problem damit? Vorgetragen mit dem Fanatismus der Neukonvertierten, deren Engagement noch nicht von Müdigkeit und Kompromissbereitschaft zurechtgestutzt ist, die glaubt, dass die neue Religion die Antworten hat, die ihr in ihrer alten Religion gefehlt haben. Noch auffälliger für Reese: Katrinas Aufregung ist herausfordernd! Sie denkt, queer zu sein, macht sie interessant!“

S. 394

„Dass Ames vorgeschlagen hat, sie könnten eine queere Familie sein. Dass queere Familien so viele Möglichkeiten haben, bei denen sie, als sie verheiratet war, gar nicht gewusst hat, dass sie sie gern gehabt hätte, bei denen sie aber gespürt hat, dass sie ihr in ihrer Ehe mit Danny fehlten. Dass sie immer schon queere Neigungen hatte, wobei sie, weil es eben nicht klipp und klar ums Lesbischen ging, nie wusste, wie sie es nennen sollte.
Ach, so ist das also gekommen?, dachte Reese. Jetzt spinnt sie sich aber was zusammen. Allerdings schien Katrina nicht nur zu spinnen, sie schien es sogar zu glauben. Sie erfand ein neues Narrativ für ihre Scheidung. Diese ungreifbaren Gründe, dieses diffuse Unglück, weshalb sie sich von Danny scheiden lassen musste? Jetzt lag es also daran, dass ihr die Möglichkeit einer queeren Beziehung fehlte, sie es aber nicht so nennen konnte. […]
„[…] Alle sagen, jeder kann aus seiner Ehe machen, was er will, aber manchmal ist, die Institution einfach übermächtig. Wie befreiend, wenn man sich seine eigenen Regeln machen kann.“
Das war für Reese das Heteronormativste, Verheiratetet, was jemals irgendjemand gesagt hat.
Aber Katrina erwidert: „Genau!“
Da lenken die anderen Frauen ein. Plötzlich versteht Reese, warum Katrina so gut in ihrem Job ist. In der Zeit, in der ein paar kleine Desserts verspeist werden, hatte Katrina diese Frauen annähernd davon überzeugt, wie sinnvoll es sein kann, ein Kind mit trans Menschen großzuziehen.
Die Königin der chemischen Reinigung ist die letzte Bastion der Verweigerung. Während alle anderen schon zögernd ihre Befürwortung signalisieren, legt sie die Stirn in Falten, als würde ihr der Gedanke Schmerzen bereiten. Dann sagt sie: »Ich weiß nicht. Irgendwie will doch heutzutage jeder und jede irgendwas Queeres. Als wäre das eine Modeerschei-nung. Und am Ende sind einfach ganz viele von uns verletzt.«“

S. 396/397

„Vor dieser ganzen Genderscheiße war ihr Körper wie ein guter Hund. Vielleicht war er nicht nur das, aber ihr Hund tat alles, was sie wollte: Sie bewegte sich rasend schnell, zog sich an Bäumen hoch, sprintete durch Wälder und über Felder, ausgelassen und mit wedelndem Schwanz. Sie hatte Glück, so einen Hund bekommen zu haben. Sie hatte so einen guten Hund nicht verdient. Sie hatte gedacht, sie würde diesen Hund immer haben – wenn sie beide alt waren, würde er ihr zu Füßen liegen wie ein Seesack, treu und gehorsam und lieb bis zum Schluss.“

S. 425

„Durch die Transition verlor Amy ihren Hund. Damit gab es nur noch sie. Sie und ihr Körper waren identisch. Jedes Gefühl gehörte jetzt einfach und ohne Mittler zu ihr. Das sollte eigentlich etwas Gutes sein. Und manchmal war es das auch. Sie musste nicht mehr aus dem Verhalten ihres Hundes schließen, was los war. Aber ohne einen Hund, dem für sie und an ihrer Stelle etwas wehtat, war ihr Leben als Frau ein Leben mit Schmerzen. Schmerzen, die ertragen, die ausgehalten werden mussten, Schmerzen, die bedeuteten, am Leben zu sein, und die folglich niemals aufhörten.
Als Jon schlägt, versucht Ames, auf seinen Körper zu hö-ren. Er hat schon lange nicht mehr an seinen Hund gedacht.
Hat er noch einen Hund? Er hatte geglaubt, seinen Hund mit der Detransition zurückzubekommen, aber so war es nicht.
Er hat schlicht das Lebendige von beidem verloren, von Schmerz und Freude. Die Welt ist in erträgliche Ferne ge-rückt, die Farben ungesättigt, aber der Hund blieb tot. Irgendwie feige, wie Ames es vermieden hat, darüber nachzu-denken, weil er hoffte, es würde schon reichen. Aber natürlich hatte er die letzten drei Jahre seines Lebens so verbracht, dass ihm wenig abverlangt wurde – ein ambitionsloser Bürojob, eine Beziehung, die ihm passiert ist, ohne dass er danach gesucht hat, sosehr er Katrina auch liebt, Freunde, die ihn gut, aber nicht zu gut kennen. Nur muss er jetzt, mit diesem Baby, diesem Werk seines verräterischen animalischen Körpers, wissen, was seine wahren Gefühle sind. Als Jon außer Puste ist, übernimmt Ames noch mal. Der Schläger schwingt und schwingt und schwingt, jeder einzelne Schlag ein Gebet, das die Toten anfleht zu sprechen.“

S. 426/427

„Aber selbst mit Katrina ist er nicht richtig anwesend, sind seine Sinne nicht ganz da. Nicht auf die schwere, gesättigte Weise, die er aus seinen Jahren als Frau kennt, und er kann nicht umhin, sich zu fragen, ob er Katrina belügt. Vielleicht hat sie etwas Besseres verdient. Mehr als nur das kompetente Faksimile eines Mannes, der mit sich im Reinen ist, sondern das Original: einen Mann, bei dem Körper und Geist im Einklang sind, wenn er sie begehrt. Selbst wenn er ihr Angebot annähme, ein Kind mit ihr großzuziehen – vielleicht verdient das Kind ja auch etwas Besseres. Ein Elternteil, dessen Anwesenheit nicht infrage gestellt werden kann, weil sie einfach echt ist. Vielleicht würde Katrina es irgendwann merken, vielleicht auch nicht, aber ein Kind würde es ganz sicher spüren. Kinder beobachten ihre Eltern, ergründen sie, stellen Theorien über ihr Verhalten auf, die sie in die eine und in die andere Richtung drehen, untersuchen jeden Fehler, und zwar selbst dann noch, wenn die Eltern schon lange nicht mehr da sind. In Geschichten, in der Therapiepraxis, im Urlaub – das Beobachten der eigenen Eltern hört nie auf. Ames‘ Kind wird ihn kennen. Das ist unvermeidlich. Und endlich ist da eine Antwort: Er möchte nicht, dass sein Kind ihn so kennt, wie er ist.“

S. 428

Kategorien
TRANS

Mein Körper als Safer Space

Vor zwei Wochen war ich für ein Wochenende auf einem Bodywork-Retreat für genderqueere Menschen bei lila_bunt in Zülpich – geleitet von Zaf und Jespa.
Es war insgesamt ein herausforderndes, sehr empowerndes Erlebnis für mich, das ich jeder queeren und*oder gender-questioning Person empfehlen möchte, die sich mit sich selbst, ihrem Körper und seiner Interaktion mit der Umwelt auseinandersetzen möchte.

lila_bunt ist einfach ein toller Ort. Völlig unscheinbar hinter einem großen, grünen Tor in einer kleinen Ansammlung von Häusern gelegen, öffnet sich ein queerfeministischer, utopischer Raum voller Herzlich- und Fürsorglichkeit. Während der absolut enthusiastischen Begrüßung durch den Hausdienst konnte ich die zärtliche Revolution getragen von Solidarität und Tatkraft quasi spüren.

ANSPANNUNG – ANKOMMEN – ATMEN

Als ich die Ankündigung der Veranstaltung einige Wochen zuvor gesehen hatte, war ich sofort völlig begeistert und euphorisch – genau das hatte ich schon so lange gesucht. Körperarbeit in einem Raum voller anderer queerer Menschen, wo einige Unsicherheiten gleich außenvor bleiben. Leicht ungünstig vielleicht der Termin – Ende der Sommerferien, ich müsste die Kinder „weg organisieren“ plus ein paar Tage weniger mit meiner Partnerperson. Einen möglichen Overload am ersten Schultag (aller Beteiligten) entschied ich als tragbare Konsequenz zu bewerten.

Schon den Tag vor der Anreise war ich unfassbar nervös und angespannt. Fremde Menschen, unbekannte Umgebung, anderes Essen, unklare Abläufe. Ich fühlte, wie der Druck der Ungewissheit in mir stieg. Dann auch noch Autofahren, an einem Freitagnachmittag, bei Hitze, eine neue Strecke, an Köln vorbei – ein Albtraum. Zusätzlich meldete sich dann recht spontan noch eine andere teilnehmende Person, um bei mir mitzufahren und testete sich positiv auf Corona auf dem Park&Ride-Parkplatz, als ich sie abholen wollte. Puh.

Als ich mega gestresst ankam, dachte ich erst, ich wäre falsch. Die Straße vor lila_bunt wird gerade erneuert – eine einzige Baustelle, Baufahrzeuge vor der Tür. Doch ich war richtig, wurde nett empfangen und bekam mein Zimmer gezeigt. Viele waren schon da, als ich zum Namensschildbasteln dazu stieß. Glitzer, Roboter- und Weltraumsticker – das musste ein queerer Ort sein. Kurz darauf ging es in den Seminarraum.

Bei der Vorstellungsrunde legte sich meine extreme Anspannung ein bisschen. Fast alle anwesenden Personen sagten Dinge über sich und ihre Motivation hier zu sein, die ich stark nachempfinden konnte. Kleine Details, die sich teilweise an den Gegenständen festmachten, die wir hatten mitbringen sollen, weil sie eine besondere Bedeutung für uns haben. Gedanken, Gefühle, Dinge, die wir für das Wochenende nicht dabei haben wollten, konnten wir – symbolisch – in Luftballons und Gläser auslagern.

Mich auf die erste körperliche Interaktion zwischen allen Teilnehmenden einzulassen – eine Art „Kreisspiel“ mit einem inneren und äußeren Kreis aus Personen, in dem sich je zwei Menschen gegenüber stehen und der äußere Kreis nach einer jeweils anderen vorgegebenen, kurzen Interaktion zur nächsten innen stehenden Person weitergeht – fiel mir schwer, ich fühlte mich sehr unsicher und anfänglich unwohl. Danach war ich etwas erleichtert und manche Interaktionen hatten mir Spaß gemacht.

GRENZEN – VERBINDUNG – RESSOURCEN

Die Workshopeinheiten am Samstag und Sonntag waren in drei thematische Blöcke gegliedert: Grenzen – Verbindung – Ressourcen.
Mit einem Wollfaden sollten wir unseren eigenen Raum auslegen. Meiner war zu Beginn ein sehr kleiner, mehrfach gelegter Kreis, den ich nach einigen weiteren Übungen am Vormittag ausgeweitet habe, als ich mich wohler, entspannter und willkommen fühlte.

Wir bekamen einen unbekannten Gegenstand, den wir mit geschlossenen Augen etwa 10 Minuten mit den Fingern erkunden sollten. Ich hatte unglaubliche Freude daran, weil ich ein unebenes, asymmetrisches Stück Holz mit Astloch bekommen hatte, das mich an eine Baumvulva erinnerte – perfect match.

Eine besonders schöne Erfahrung waren für mich auch „Listening Turns“, wo es darum geht, abwechselnd einer anderen Person 5 Minuten etwas zu erzählen und 5 Minuten etwas erzählt zu bekommen, sich danach beieinander zu bedanken bzw. „Gerne“ zu sagen – ohne jeglichen Kommentar zum Gesagten, weder währenddessen noch danach.

Wir wurden außerdem eingeladen, den Seminarraum körperlich zu begreifen, zu erfassen, zu erkunden. Es war so befreiend und interessant, sich auf dem Bauch über den neuen Holzboden zu ziehen, Holzstrukturen mit dem Finger nachzuzeichnen, den Geruch einzuatmen, die Kühle und Rauheit der Wände zu spüren, das warme, glatte Holz des Fensterbretts, das in der Sonne lag, die metallenen Rillen der Heizkörper entlang zu fahren und dem gleichmäßigen Klang zu lauschen, der entsteht.

Immer wieder gab es die Möglichkeit, in Paaren oder in der Gruppe die eigenen Erfahrungen und Gedanken zu teilen. Für mich war unglaublich interessant zu erleben, dass ich oft gar nicht mehr das Bedürfnis hatte, etwas zu sagen. Die Erfahrung allein, der Fokus, die Interaktion mit mir, dem Raum, Gegenständen oder anderen war ausreichend – es gab dem nichts mehr hinzuzufügen.
Eine eingesetzte Methode nach somatischen Übungen war „automatic writing“ – für einen begrenzten Zeitraum einfach aufschreiben, was 1 gerade im Kopf hat. Neben den Listening Turns hat das, denke ich auch, dazu beigetragen, dass für mich alles gesagt, alles gefühlt, alles gedacht war.

AUTHENTIC MOVEMENT- SCULPTURING – AUTOMATIC WRITING

Die für mich krasseste Herausforderung und Überwindung war eine Paarübung aus dem „authentic movement“ – begleitete Bewegung. Mich zu Musik bewegen, Bewegungsimpulsen meines Körpers folgend und dabei von einer anderen Person begleitet, berührt werden – puh, das schien mir fast unmöglich. Mein innerer Widerstand war erstmal spürbar groß, ein Gefühl von Überforderung, die Angst, mich lächerlich zu machen, es nicht zu können.
Aber ich wollte wirklich alles geben und alles mitnehmen von diesem Wochenende – und mein Mut hat sich gelohnt.

Es war eine sehr, sehr schöne, empowernde Erfahrung. Mit einer Geste konnte ich die andere Person einladen und wieder ausladen aus der Begleitung. Ich konnte in einer losen, spontanen Abfolge Bewegungen ausprobieren und vertiefen, die ich seit einiger Zeit für mich als entspannend, stimulierend und regulierend herausgefunden habe. Beide Arme abwechselnd nach hinten über die Schulter klappen, dabei große, dehnende Ausfallschritte machen. Hüpfen. Auf den Füßen vor und zurück schwingen. Den Kopf und die Arme hängen lassen, den Rücken dehnen. Die gegenteilige Biegung, Brücke mit voller Spannkraft – alle Gelenke und Muskeln in Anspannung. Die Stellung des Kindes.

Ich wollte gerne anfangen, weil ich mir die Begleitung einer anderen Person noch schwieriger vorstellte – woher wissen, was die andere Person will oder macht?
Und dann war es gar nicht so schwer. Auch hier einigten wir uns vorab, wo berührt werden durfte, wo nicht und mit welcher Intensität, welche Gesten, Start und Stop signalisieren sollten. Es ist verrückt, so eine intensive, intime Erfahrung mit einer anderen Person zu machen, die 1 nicht kennt. Zu vertrauen, die Aufmerksamkeit zu schenken.

Es ist unglaublich bereichernd, so einen Raum erlebt zu haben. Wo es keine Maßstäbe für Geschlecht und Körper gibt, keine Bewertung von Teilnahme und Ausführung. Wo es keinen Druck gibt, mitzumachen, keine Erwartung an eine zu erbringende Leistung. Wo Unsicherheiten ausgesprochen werden können, wo Menschen und Gefühle im Raum stehen können, wie sie sind – ohne Kommentar. Das ist die gelebte Utopie.

Im Garten haben wir gegenseitig unsere „Meine Grenze wird gewahrt“-Pose skulpturiert – also verkörpert dargestellt. Wie fühlt es sich an, den Ausdruck (an) der anderen Person zu sehen? Wie fühlt sich die darstellende Person in der Pose der anderen? Wir haben in einem Rundgang jeweils alle Skulpturen angeschaut und bezeugt.

Einen „automatic writing“-Text nach einer geführten Körpermeditation konnten wir in ein Bild transformieren – auch hier gab es einen Rundgang, um die anderen Werke zu sehen, alle sehr unterschiedlich. Mein Gefühl und mein Bild waren mir sehr klar, die Symmetrie überraschte mich – wie zwei Sonnen, die sich in einer vertikalen Achse in einer Art Meer / Strom spiegeln. Ein roter Fokuspunkt mein Kopf, die Konzentration, der andere mein Po, die Verbindung zum Boden, dazwischen ein angenehmes, vor und zurück schwingendes Nichts, Ruhe und Präsenz.

AMBIVALENZ – SAUNA – TEILNAHMESPEKTRUM

Ich hatte zwischendurch immer wiederkehrende negative Gedanken an dem Wochenende, soziale Ängste, für komisch gehalten zu werden – für mein Aussehen, für mein Verhalten, aber vor allem Ängste bzgl. des „Danach“ – wie würde ich den Wiedereinstieg ins Leben mit Kindern schaffen, hatte ich mir zu viel herausgenommen mit diesem Wochenende, würde der Schulstart gelingen, hatte ich mich selbst wieder überfordert, weil ich zu viel gewollt hatte? Zum Glück gelang es mir meistens schnell, diese Gedanken wegzuschieben und mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, all das Gute im Moment wahrzunehmen.

Es blieb in Teilen eine Ambivalenz bestehen. Am Sonntagmorgen fragte ich mich, ob mein Kooperationskontingent bereits aufgebraucht war von den zwei Tage zuvor.
Ich hatte schon öfter meine bisherigen Grenzen überschritten, mich den Herausforderungen gestellt – und es war empowernd und gut gewesen, ich hatte etwas Neues probiert und eine neue Erfahrung gewonnen.

Es ging plötzlich noch einmal tief – auf eine sehr konkrete, strukturierte Art und Weise, ein Arbeitsblatt zur Reflexion von körperlichen Erfahrungen, wo wir uns unwohl gefühlt hatten und wie wir einmal „weniger gut“ und einmal „gut“ damit umgehen hatten können, um den Blick auf unsere Ressourcen zu lenken. Wir tauschten uns in Kleingruppen dazu aus und ich habe es als hilfreich und schön erlebt, mit eher noch fremden, wohlwollenden Personen über schwierige, persönliche Dinge zu sprechen und – wie bei den Listening Turns – primär auf ein Gegenüber zu treffen, das primär zuhört, validiert und Mitgefühl äußert.

Generell liebe ich diese strukturierten sozialen Interaktionen, wo angeleitet ein Austausch stattfindet – mit einem klar definierten Thema, einer konkreten Zeitvorgabe, vorgegebenem Interaktionsmuster, wo eindeutig ist, worüber gesprochen wird, wann Anfang und Ende ist, wer welche Rolle hat.

Nachdem wir Ressourcen – verteilt auf drei Ebenen – in der Gruppe gesammelt hatten, konnte jede Person in einer Geste, Pose, Laut vormachen, wie es ihr gerade geht und die Gruppe hat diesen Ausdruck wiederholt, gespiegelt – auch eine crazy Erfahrung. Neben einer verbalen Abschluss- und Reflexionsrunde konnten wir uns selbst Briefe schreiben, die uns in einem halben Jahr zugeschickt werden. Vielleicht ein bekanntes Tool – ich finde den Gedanken schön und bin gespannt, was ich zu dem Zeitpunkt darüber denke, was ich geschrieben habe, mir sagen wollte und welche Themen sich bis dahin wie entwickelt haben werden.

Und: Ich war in der Haus eigenen Sauna! OMG!!!!1111!!!11! 3x und habe danach draußen unter Sternenhimmel (ok, leicht bewölkt) im Garten geduscht. How crazy and amazing can it get? Dazwischen leicht fröstelnd am Lagerfeuer sitzen – und eigentlich war es mir irgendwann zu spät, aber alles mitnehmen und so. Und meine Sauna-Begleitpersonen waren auch einfach so nett und toll.
(Ich habe schon länger davon geträumt, weil ich wissen wollte, wie sich die Hitze anfühlt, weil ich festgestellt habe, dass ich (temporär als Reiz) „extreme“ Temperaturen mag. In eine öffentliche Sauna werde ich mich wahrscheinlich in naher Zukunft nicht trauen, da es mir dort einfach zu viele fremde, potenziell trans*feindliche Menschen sind.)

Besonders heilsam und spannend für mich war das Erlebnis des Spektrums von Teilnahme, in dem ich mich – in meiner Wahrnehmung – irgendwo in der Mitte befunden habe, zwischen all in und all out. Andere queere Personen an ihrem aktuellen Punkt der Entwicklung zu erleben – ihren Unsicherheiten, ihrem körperlichen Ausdruck, ihren Fragestellungen -, hat mir verdeutlicht, wo ich gerade stehe, was ich bereits geschafft habe, wo ich noch hin möchte, woher ich komme. Es war schön zu erleben, dass alles sein darf – und es keinen äußeren Zwang gibt, irgendwie (schneller, besser, …) zu sein oder zu werden.

Ich denke, solche Erfahrungsräume sind extrem wichtig – für gender-nonkonforme Menschen. Es ist so außergewöhnlich, einmal nicht bewertet, nicht kategorisiert, nicht (an irgendetwas oder irgendeins) gemessen zu werden. Nicht überall mitmachen zu müssen, nicht sprechen zu müssen, wenn 1 gerade nicht will. Diese ernst gemeinte Einladung, unsere Grenzen zu erkennen und zu wahren, nur Verbindungen unter den Bedingungen einzugehen, die wir wollen, und Ressourcen in uns und anderen zu finden, sollte eine Selbstverständlichkeit sein – wie sie in meiner Erfahrung im Alltag quasi nie vorkommt. Ich habe das als großes Geschenk erlebt und nehme viele Impulse daraus mit.

Vielen Dank an lila_bunt, Zaf, Jespa und alle Teilnehmenden!

Falls ihr als queere Person mal an einer Veranstaltung bei lila_bunt teilnehmen wollt und euch die Teilnahme alleine nicht leisten könnt, meldet euch gerne bei mir und ich übernehme bis zu 50€ der Kosten.

Kategorien
TRANS

Em | power – bodi | ment

Am Wochenende habe ich an einem Körpererfahrungs- und Empowermentworkshop für trans* und nicht-binäre Personen geleitet von Alexander Hahne (https://alexanderhahne.com/) und organisiert vom NGVT NRW (https://ngvt.nrw/koerpererfahrungsworkshop-fuer-trans-und-nicht-binaere-personen-mit-alexander-hahne/) teilgenommen. Fast wäre ich wegen absoluter Verpeiltheit an der Anmeldung gescheitert. Mensch, bin ich froh, dass ich dabei war. Kurzzusammenfassung zu Beginn: Es war ein sehr bestärkendes und berührendes Erlebnis, einen Raum mit anderen queeren Personen zu teilen und zu gestalten.

Es ist immer noch eine Überwindung für mich, mich auf Gruppensituationen (vor allem mit erstmal fremden Personen) und auf körper- und wahrnehmugszentrierte Bildungs- und Erfahrungsangebote einzulassen, da ich damit aufgrund von (sozialen) Ängsten bisher wenig Berührung hatte und wenn eher theoretisch-kognitiv orientierte Veranstaltungen besucht habe, wo ich als individuelle Person mit einer bestimmten Körperlichkeit (vermeintlich) keine Rolle gespielt habe bzw. im Hintergrund bleiben konnte.

Ich finde es unglaublich spannend, wie dort ein semi-privater, intim-öffentlicher Raum entstanden ist, in dem Körper, Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle wertfrei, größtenteils unkommentiert nebeneinander existieren können. Wo es möglich wird, aktuelle und generell wichtige persönliche Dinge auszusprechen, wo primär zugehört und verstanden wird.
Für mich hat das gesamte Setting (neben der Entwicklung und Reflexion, die ich davor schon selbst gemacht habe, um an diesen Punkt zu kommen) so viele unsichtbare Hürden abgebaut, die mich in anderen Kontexten hemmen, mich überhaupt zu zeigen und zu äußern. Es ist eine sehr schöne, bestärkende Erfahrung, mich als zugehöriger Teil einer Gruppe fühlen zu können und mich nicht fehl am Platz und randständig zu fühlen.

Es ist so simpel und gleichzeitig krass, was für einen Unterschied es für das Wohlbefinden und Erleben macht, die „Erlaubnis“ oder sogar explizite Aufforderung zu bekommen, sich in einem Seminardispositiv frei bewegen und körperlich ausdrücken zu dürfen, wie es eins authentisch und intuitiv erscheint. Es lässt deutlich werden, wie reglementiert der Raum und Körper in ihm in der Regel sind, was implizit als „angemessen“ und „normal“ gilt. Es ist so eine Erleichterung, dass nicht jede körperliche Regung als Indikation für Aufmerksamkeit gewertet und entsprechend fokussiert wird.

Neben der Erkenntnis dieses Befreiungspotenzials hat mir außerdem besonders gut gefallen und mich erstaunt, wie es möglich ist, nicht nur physisch, sondern auch thematisch innerhalb einer Gruppenkonstellation den Fokus auf das Individuum zu legen – auf die eigenen Bedürfnisse, Fragestellungen und Grenzen. Ich dachte für mich immer, dass es einer Art von Integration und Anpassung auf etwas Gemeinsames, eine Art Schnittmengenfokussierung innerhalb von Gruppen geben muss, damit „es funktioniert“ oder „richtig ist“.
Wahrscheinlich ist diese fälschliche Ansicht dem Normativitätsdruck in der Dominanzgesellschaft geschuldet, wo es meistens so abläuft und sich aufgrund dessen marginalisierte Personen aus diesen Räumen zurückziehen – wie ich auch, weil wir in diesem gemeinsamen Resteschnipsel nicht mehr vorkommen, sondern herausgeschnitten sind.

Erholsam anders fand ich in diesem Workshopkonzept auch, dass es durch den oben beschriebenen Ansatz weniger um gesellschaftliche Diskriminierung (negativ besetzt und Kräfte raubend) ging und mehr um die eigenen Ressourcen und Zugehörigkeitserfahrungen im kleineren alltäglichen Rahmen (positiv besetzt und Kraft gebend). Es ging dabei nicht darum, diese Diskriminierungsstrukturen – und erlebnisse zu leugnen oder zu relativieren, sondern sie als gegebene Rahmenbedingung anzuerkennen, aber dieses Hintergrundrauschen für den Moment eher auszublenden. Die Idee war auch nicht eine Art toxischer Positivität, sondern queer joy und trans* empowerment zu zentrieren.

Dabei habe ich es als total bestärkend erlebt, andere trans* und nicht-binäre Personen real zu erleben und über sich, ihre Struggles und Träume sprechen zu hören. Es waren so starke Menschen dabei und gleichzeitig so eine große Offenheit für Verletzlichkeit und Unsicherheit. Es war toll und berührend, Personen zuversichtlich zu sehen, die sich gerade erst auf ihren Weg der Transition und gender journey gemacht haben, und wie Menschen, die schon länger unterwegs sind, neue Impulse bekommen haben oder einfach nur gesehen und gehört wurden – auch in ihrem Leid. Super wichtig und interessant fand ich in diesem Kontext den Hinweis auf die Unterschiedlichkeit der Bewertung und Reaktion auf bestimmte Gefühle und ihre Äußerung. Dass z.B. Traurigkeit viel eher akzeptiert und wertgeschätzt wird als z.B. Wut.

Die Erfahrung, dass eine vermeintlich homogene kleine Gruppe, in diesem Fall von trans* und nicht-binären Menschen in sich sehr heterogen sein kann, ist vielleicht banal. Ich finde es aber immer wieder wichtig, mir das selbst vor Augen zu führen, wie verschieden Lebensrealitäten, Wünsche und Interessen trotz konkreter (vermeintlicher) Gemeinsamkeiten sein können. Die Frage nach Community, Gemeinschaft(lichkeit), Zugehörigkeit, Sichtbarkeit und Repräsentation ist keine einfache – auch hier gibt es (natürlich) intersektionale Bezüge und Spannungen mit einem imaginierten queeren Mainstream.

Durch eine simple Übung von Führen und Folgen konnte ich für mich noch einmal praktisch erleben, was mich in den letzten Monaten in größeren Handlungskontexten stark beschäftigt hat und woran ich arbeite(n möchte). Sicherlich habe ich das Ganze auch nur durch die eh schon hohe Awareness für dieses Thema so wahrgenommen und eingeordnet.
Ich kann mich gut fallen und führen lassen, habe großes Vertrauen in bestimmte Personen und genieße bis zu einem gewissen Punkt die Entspannung, Sorg- und Verantwortungslosigkeit, die mir diese Anpassung und Bindung ermöglicht. Irgendwann kippt die Situation und ich möchte selbst wieder mehr in die Autonomie und Führungsrolle, da mich der Kontrollverlust ängstigt und überfordert und mir das Gefühl der Selbstwirksamkeit fehlt. Diese Grenze konnte ich innerhalb der Übung sehr gut spüren und möchte diesen Punkt oder, wenn ich auf ihn zusteuere, auch im Alltag bewusster wahrnehmen und wenn überhaupt nur bewusst überschreiten.

Bis vor kurzem hatte ich gar keinen Zugang zu solchen Bildungsangeboten und eher Zweifel, dass das etwas Gutes für mich sein könnte. Ich bin froh, dass der Mut der Neugier beigesprungen ist und die Ängste und Widerstände leiser geworden sind. Wie auch nach dem Wochenende für Regenbogenfamilien im Monat davor ziehe ich für mich das Fazit, dass ich mehr solche Erfahrungen mit anderen queeren Menschen machen will, weil ich dort viel (Neues) über mich und andere lerne, sich neue Räume eröffnen und Impulse ergeben, die wichtig für mein Leben, mein Wohlbefinden und mich als Person sind.

〰️〰️〰️〰️〰️〰️〰️〰️〰️〰️〰️〰️〰️〰️〰️〰️〰️〰️〰️〰️〰️〰️〰️〰️

An dieser Stelle empfehle ich euch ganz generell die Angebote von Alexander Hahne sowie vom NGVT NRW.

Besonders schön und auch für den professionellen Kontext geeignet sind die Materialkarten, die Alexander Hahne mit Illustrationen von Momo Grace Schmülling für die „Sexuelle Bildung zu trans und nicht-binären Körperen“ erstellt hat: https://www.rootsofcompassion.org/Sexuelle-Bildung-zu-trans-und-nicht-binaeren-Koerpern-Materialkarten-fuer-Beratung-und-Workshops-Alexander-Hahne.

Instagram

Alexander Hahne: https://www.instagram.com/alexander_hahne/

NGVT NRW: https://www.instagram.com/ngvt_nrw/