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Triggerpunkte

Das Forschungsprojekt und die Monografie „Triggerpunkte – Konflikt und Konsens in der Gegenwartsgesellschaft“ finde ich wissenschaftlich und gesellschaftspolitisch sehr ehren- und bewundernswert.

Auf einer breiten empirischen Datenbasis und gleichzeitig theoriegeleitet untersuchen die drei Autoren (!1) die Fragestellung, ob die deutsche Gegenwartsgesellschaft „gespalten“ bzw. „polarisiert“ ist, da dies medial oft suggeriert wird. Das eindeutige Fazit der Studie: Nein. Die Polarisierung sei eher ein medial inszeniertes und gefühltes Phänomen. Eine Politisierung bestimmter Reizthemen wird dennoch behauptet.

Arenen der Ungleichheit

In den vier untersuchten „Arenen der Ungleichheit“,

  1. Oben-Unten (Finanz- und Sozialpolitik)
  2. Innen-Außen (Migrations- und Außenpolitik)
  3. Wir-Sie (Identitäts- und Kulturpolitik) und
  4. Heute-Morgen (Umwelt- und Verkehrspolitik)2

wird über alle Klassen/Schichten, Geschlechter, Wohnorte, Berufsgruppen, Bildungsniveaus und Wähler*innenschaften („Elektorate“) ein „breiter gesellschaftlicher Konsens“ festgestellt, der jedoch in allen vier Arenen von einem „Ja, aber“ gekennzeichnet sei.

Oben-Unten: Umverteilung

Zu 1. Umverteilung, ja. Aber keine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze und keine höhere Besteuerung von höheren Einkommen und Vermögen. Es wird eine „demobilisierte Klassengesellschaft“ attestiert, die vor allem aufgrund von Glauben an Meritokratie („alle bekommen, was sie verdient haben“, „Leistung muss sich lohnen“, „wer sich anstrengt, verdient auch mehr“ – danke für nichts, Neoliberalismus) und einem wahrgenommenen eigenen Wohlstand (z.B. im Vergleich zu anderen Ländern) nicht für eine stärkere Umverteilung eintritt. Gerade untere Einkommensschichten glauben besonders stark daran, dass sie es mit eigener Anstrengung „nach oben“ schaffen könnten. (LOL)

INNEN-AUßen: Migration

Zu 2. Migration, ja. Aber nur die „guten“ Migrant*innen, also die, die wirtschaftlich „wertvoll“ sind oder „echte“ Fluchtursachen haben und zu „unseren“ Bedingungen (Stichwort: Assimilation; „Leitkultur“).

WIR-Sie: MInderheiten

Zu 3. Toleranz für homosexuelle und trans*nicht-binäre Personen, ja. Aber am besten nicht in meiner Familie, bitte nicht in der Öffentlichkeit und dort nicht so penetrant (!). Schließlich wollen sie ja gleiche Rechte, also sollen sie sich bitte auch „normal“ verhalten und nicht so LAUT sein. Und gendergerechte Sprache lasse ich mir nicht vorschreiben – wo kommen wir denn da hin!

heute-morgen: Klimawandel

Zu 4. Klimaschutzmaßnahmen, ja. Aber ich möchte bitte keine persönlichen Einschränkungen davon haben und mein Auto + Fahrgeschwindigkeit und mein Fleisch lasse ich mir nicht verbieten!

Mich haben diese Zusammenfassungen und Erkenntnisse nicht sonderlich optimistisch gestimmt, sondern eher resigniert fühlen lassen (siehe Europawahl 2024). Und der Erkenntnisgewinn scheint mir auch gering, denn ich wusste auch vorher, was Armin und Gisela denken und sagen. Schließlich werden die emotionalisierten „Debatten“ ja ständig medial aufgeführt.

Triggerursachen

Triggerpunkte entstehen anhand der Autoren aufgrund von vier Merkmalen:

  1. Ungleichbehandlung / Gleichheitsgrundsatz („Sonderrechte für Minderheiten“),
  2. Normalitätsverstöße / Normalitätserwartung („Ausländerkriminalität“),
  3. Entgrenzungsbefürchtungen / Kontrollbedürfnis („Grenzöffnungen“) und
  4. Verhaltenszumutungen / Gewohnheitsrecht („Tempolimit“).

Menschen mit viel Kapital (sozial, ökonomisch, kulturell, etc.), also Bildungseliten (technische und kulturelle Expert*innen wie Ingenieur*innen und Lehrer*innen) sind in der Regel progressiver und liberaler eingestellt, während Personen mit wenig Kapital (sozial, ökonomisch, kulturell, etc.) also Produktionsarbeitende oder Kleinunternehmer*innen wie Kioskbetreibende eher zu konservativeren Einstellungen neigen. Mehr Bildung und Wohlstand für alle würden also einige politische Probleme lösen. Surprise. (Ironie)

Interessant ist auch, dass Menschen mit höherer Bildung ein kohärentes Wertesystem zu haben scheinen und über die Arenen hinweg progressive Meinungen vertreten, während Personen mit geringerer Bildung opportunistischer und partikularistischer denken und entscheiden. Damit sind sie auch anfälliger für populistische Affektpolitik „an den Rändern“, die Triggerpunkte emotional, medial und schließlich auch politisch ausnutzt (siehe AFD auf TikTok).

Lesenwert und ernüchternd

Die Monografie ist – bis auf einige akademische Ausdrücke und Lieblingswörter („Salienz“, „Ökonomien“) – sehr zugänglich geschrieben und beinhaltet sehr viele, visuell gut aufbereitete Grafiken und tabellarische Übersichten der empirischen Befunde, die wesentliche Analyseergebnisse kurz und übersichtlich zusammenfassen.

Ein lesenswertes Buch, das das Potenzial zum sozialwissenschaftlichen Klassiker hat, das auf mich aber doch eher ernüchternd als beruhigend gewirkt hat.

„Triggerpunkte – Konflikt und Konsenz in der Gegenwartsgesellschaft“ von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser. edition suhrkamp. 2023

  1. Sehr süß und lobenswert finde ich, dass die drei Autoren in der Danksagung explizit sagen, dass so ein Projekt keine „Three-Men-Show“ sei und würdigen alle anderen Mitwirkenden. ↩︎
  2. Wobei (1) als klassisches industrielles ökonomisches, gesättigtes Spannungsfeld und (2)-(4) als „postindustrielle“, nicht diskursiv eingespielte/eingehegte Konfliktthemen kategorisiert werden, die noch nicht entschieden sind. ↩︎

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