Vor zwei Wochen war ich für ein Wochenende auf einem Bodywork-Retreat für genderqueere Menschen bei lila_bunt in Zülpich – geleitet von Zaf und Jespa.
Es war insgesamt ein herausforderndes, sehr empowerndes Erlebnis für mich, das ich jeder queeren und*oder gender-questioning Person empfehlen möchte, die sich mit sich selbst, ihrem Körper und seiner Interaktion mit der Umwelt auseinandersetzen möchte.
lila_bunt ist einfach ein toller Ort. Völlig unscheinbar hinter einem großen, grünen Tor in einer kleinen Ansammlung von Häusern gelegen, öffnet sich ein queerfeministischer, utopischer Raum voller Herzlich- und Fürsorglichkeit. Während der absolut enthusiastischen Begrüßung durch den Hausdienst konnte ich die zärtliche Revolution getragen von Solidarität und Tatkraft quasi spüren.
ANSPANNUNG – ANKOMMEN – ATMEN
Als ich die Ankündigung der Veranstaltung einige Wochen zuvor gesehen hatte, war ich sofort völlig begeistert und euphorisch – genau das hatte ich schon so lange gesucht. Körperarbeit in einem Raum voller anderer queerer Menschen, wo einige Unsicherheiten gleich außenvor bleiben. Leicht ungünstig vielleicht der Termin – Ende der Sommerferien, ich müsste die Kinder „weg organisieren“ plus ein paar Tage weniger mit meiner Partnerperson. Einen möglichen Overload am ersten Schultag (aller Beteiligten) entschied ich als tragbare Konsequenz zu bewerten.
Schon den Tag vor der Anreise war ich unfassbar nervös und angespannt. Fremde Menschen, unbekannte Umgebung, anderes Essen, unklare Abläufe. Ich fühlte, wie der Druck der Ungewissheit in mir stieg. Dann auch noch Autofahren, an einem Freitagnachmittag, bei Hitze, eine neue Strecke, an Köln vorbei – ein Albtraum. Zusätzlich meldete sich dann recht spontan noch eine andere teilnehmende Person, um bei mir mitzufahren und testete sich positiv auf Corona auf dem Park&Ride-Parkplatz, als ich sie abholen wollte. Puh.
Als ich mega gestresst ankam, dachte ich erst, ich wäre falsch. Die Straße vor lila_bunt wird gerade erneuert – eine einzige Baustelle, Baufahrzeuge vor der Tür. Doch ich war richtig, wurde nett empfangen und bekam mein Zimmer gezeigt. Viele waren schon da, als ich zum Namensschildbasteln dazu stieß. Glitzer, Roboter- und Weltraumsticker – das musste ein queerer Ort sein. Kurz darauf ging es in den Seminarraum.
Bei der Vorstellungsrunde legte sich meine extreme Anspannung ein bisschen. Fast alle anwesenden Personen sagten Dinge über sich und ihre Motivation hier zu sein, die ich stark nachempfinden konnte. Kleine Details, die sich teilweise an den Gegenständen festmachten, die wir hatten mitbringen sollen, weil sie eine besondere Bedeutung für uns haben. Gedanken, Gefühle, Dinge, die wir für das Wochenende nicht dabei haben wollten, konnten wir – symbolisch – in Luftballons und Gläser auslagern.
Mich auf die erste körperliche Interaktion zwischen allen Teilnehmenden einzulassen – eine Art „Kreisspiel“ mit einem inneren und äußeren Kreis aus Personen, in dem sich je zwei Menschen gegenüber stehen und der äußere Kreis nach einer jeweils anderen vorgegebenen, kurzen Interaktion zur nächsten innen stehenden Person weitergeht – fiel mir schwer, ich fühlte mich sehr unsicher und anfänglich unwohl. Danach war ich etwas erleichtert und manche Interaktionen hatten mir Spaß gemacht.
GRENZEN – VERBINDUNG – RESSOURCEN
Die Workshopeinheiten am Samstag und Sonntag waren in drei thematische Blöcke gegliedert: Grenzen – Verbindung – Ressourcen.
Mit einem Wollfaden sollten wir unseren eigenen Raum auslegen. Meiner war zu Beginn ein sehr kleiner, mehrfach gelegter Kreis, den ich nach einigen weiteren Übungen am Vormittag ausgeweitet habe, als ich mich wohler, entspannter und willkommen fühlte.
Wir bekamen einen unbekannten Gegenstand, den wir mit geschlossenen Augen etwa 10 Minuten mit den Fingern erkunden sollten. Ich hatte unglaubliche Freude daran, weil ich ein unebenes, asymmetrisches Stück Holz mit Astloch bekommen hatte, das mich an eine Baumvulva erinnerte – perfect match.
Eine besonders schöne Erfahrung waren für mich auch „Listening Turns“, wo es darum geht, abwechselnd einer anderen Person 5 Minuten etwas zu erzählen und 5 Minuten etwas erzählt zu bekommen, sich danach beieinander zu bedanken bzw. „Gerne“ zu sagen – ohne jeglichen Kommentar zum Gesagten, weder währenddessen noch danach.
Wir wurden außerdem eingeladen, den Seminarraum körperlich zu begreifen, zu erfassen, zu erkunden. Es war so befreiend und interessant, sich auf dem Bauch über den neuen Holzboden zu ziehen, Holzstrukturen mit dem Finger nachzuzeichnen, den Geruch einzuatmen, die Kühle und Rauheit der Wände zu spüren, das warme, glatte Holz des Fensterbretts, das in der Sonne lag, die metallenen Rillen der Heizkörper entlang zu fahren und dem gleichmäßigen Klang zu lauschen, der entsteht.
Immer wieder gab es die Möglichkeit, in Paaren oder in der Gruppe die eigenen Erfahrungen und Gedanken zu teilen. Für mich war unglaublich interessant zu erleben, dass ich oft gar nicht mehr das Bedürfnis hatte, etwas zu sagen. Die Erfahrung allein, der Fokus, die Interaktion mit mir, dem Raum, Gegenständen oder anderen war ausreichend – es gab dem nichts mehr hinzuzufügen.
Eine eingesetzte Methode nach somatischen Übungen war „automatic writing“ – für einen begrenzten Zeitraum einfach aufschreiben, was 1 gerade im Kopf hat. Neben den Listening Turns hat das, denke ich auch, dazu beigetragen, dass für mich alles gesagt, alles gefühlt, alles gedacht war.
AUTHENTIC MOVEMENT- SCULPTURING – AUTOMATIC WRITING
Die für mich krasseste Herausforderung und Überwindung war eine Paarübung aus dem „authentic movement“ – begleitete Bewegung. Mich zu Musik bewegen, Bewegungsimpulsen meines Körpers folgend und dabei von einer anderen Person begleitet, berührt werden – puh, das schien mir fast unmöglich. Mein innerer Widerstand war erstmal spürbar groß, ein Gefühl von Überforderung, die Angst, mich lächerlich zu machen, es nicht zu können.
Aber ich wollte wirklich alles geben und alles mitnehmen von diesem Wochenende – und mein Mut hat sich gelohnt.
Es war eine sehr, sehr schöne, empowernde Erfahrung. Mit einer Geste konnte ich die andere Person einladen und wieder ausladen aus der Begleitung. Ich konnte in einer losen, spontanen Abfolge Bewegungen ausprobieren und vertiefen, die ich seit einiger Zeit für mich als entspannend, stimulierend und regulierend herausgefunden habe. Beide Arme abwechselnd nach hinten über die Schulter klappen, dabei große, dehnende Ausfallschritte machen. Hüpfen. Auf den Füßen vor und zurück schwingen. Den Kopf und die Arme hängen lassen, den Rücken dehnen. Die gegenteilige Biegung, Brücke mit voller Spannkraft – alle Gelenke und Muskeln in Anspannung. Die Stellung des Kindes.
Ich wollte gerne anfangen, weil ich mir die Begleitung einer anderen Person noch schwieriger vorstellte – woher wissen, was die andere Person will oder macht?
Und dann war es gar nicht so schwer. Auch hier einigten wir uns vorab, wo berührt werden durfte, wo nicht und mit welcher Intensität, welche Gesten, Start und Stop signalisieren sollten. Es ist verrückt, so eine intensive, intime Erfahrung mit einer anderen Person zu machen, die 1 nicht kennt. Zu vertrauen, die Aufmerksamkeit zu schenken.
Es ist unglaublich bereichernd, so einen Raum erlebt zu haben. Wo es keine Maßstäbe für Geschlecht und Körper gibt, keine Bewertung von Teilnahme und Ausführung. Wo es keinen Druck gibt, mitzumachen, keine Erwartung an eine zu erbringende Leistung. Wo Unsicherheiten ausgesprochen werden können, wo Menschen und Gefühle im Raum stehen können, wie sie sind – ohne Kommentar. Das ist die gelebte Utopie.
Im Garten haben wir gegenseitig unsere „Meine Grenze wird gewahrt“-Pose skulpturiert – also verkörpert dargestellt. Wie fühlt es sich an, den Ausdruck (an) der anderen Person zu sehen? Wie fühlt sich die darstellende Person in der Pose der anderen? Wir haben in einem Rundgang jeweils alle Skulpturen angeschaut und bezeugt.
Einen „automatic writing“-Text nach einer geführten Körpermeditation konnten wir in ein Bild transformieren – auch hier gab es einen Rundgang, um die anderen Werke zu sehen, alle sehr unterschiedlich. Mein Gefühl und mein Bild waren mir sehr klar, die Symmetrie überraschte mich – wie zwei Sonnen, die sich in einer vertikalen Achse in einer Art Meer / Strom spiegeln. Ein roter Fokuspunkt mein Kopf, die Konzentration, der andere mein Po, die Verbindung zum Boden, dazwischen ein angenehmes, vor und zurück schwingendes Nichts, Ruhe und Präsenz.
AMBIVALENZ – SAUNA – TEILNAHMESPEKTRUM
Ich hatte zwischendurch immer wiederkehrende negative Gedanken an dem Wochenende, soziale Ängste, für komisch gehalten zu werden – für mein Aussehen, für mein Verhalten, aber vor allem Ängste bzgl. des „Danach“ – wie würde ich den Wiedereinstieg ins Leben mit Kindern schaffen, hatte ich mir zu viel herausgenommen mit diesem Wochenende, würde der Schulstart gelingen, hatte ich mich selbst wieder überfordert, weil ich zu viel gewollt hatte? Zum Glück gelang es mir meistens schnell, diese Gedanken wegzuschieben und mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, all das Gute im Moment wahrzunehmen.
Es blieb in Teilen eine Ambivalenz bestehen. Am Sonntagmorgen fragte ich mich, ob mein Kooperationskontingent bereits aufgebraucht war von den zwei Tage zuvor.
Ich hatte schon öfter meine bisherigen Grenzen überschritten, mich den Herausforderungen gestellt – und es war empowernd und gut gewesen, ich hatte etwas Neues probiert und eine neue Erfahrung gewonnen.
Es ging plötzlich noch einmal tief – auf eine sehr konkrete, strukturierte Art und Weise, ein Arbeitsblatt zur Reflexion von körperlichen Erfahrungen, wo wir uns unwohl gefühlt hatten und wie wir einmal „weniger gut“ und einmal „gut“ damit umgehen hatten können, um den Blick auf unsere Ressourcen zu lenken. Wir tauschten uns in Kleingruppen dazu aus und ich habe es als hilfreich und schön erlebt, mit eher noch fremden, wohlwollenden Personen über schwierige, persönliche Dinge zu sprechen und – wie bei den Listening Turns – primär auf ein Gegenüber zu treffen, das primär zuhört, validiert und Mitgefühl äußert.
Generell liebe ich diese strukturierten sozialen Interaktionen, wo angeleitet ein Austausch stattfindet – mit einem klar definierten Thema, einer konkreten Zeitvorgabe, vorgegebenem Interaktionsmuster, wo eindeutig ist, worüber gesprochen wird, wann Anfang und Ende ist, wer welche Rolle hat.
Nachdem wir Ressourcen – verteilt auf drei Ebenen – in der Gruppe gesammelt hatten, konnte jede Person in einer Geste, Pose, Laut vormachen, wie es ihr gerade geht und die Gruppe hat diesen Ausdruck wiederholt, gespiegelt – auch eine crazy Erfahrung. Neben einer verbalen Abschluss- und Reflexionsrunde konnten wir uns selbst Briefe schreiben, die uns in einem halben Jahr zugeschickt werden. Vielleicht ein bekanntes Tool – ich finde den Gedanken schön und bin gespannt, was ich zu dem Zeitpunkt darüber denke, was ich geschrieben habe, mir sagen wollte und welche Themen sich bis dahin wie entwickelt haben werden.
Und: Ich war in der Haus eigenen Sauna! OMG!!!!1111!!!11! 3x und habe danach draußen unter Sternenhimmel (ok, leicht bewölkt) im Garten geduscht. How crazy and amazing can it get? Dazwischen leicht fröstelnd am Lagerfeuer sitzen – und eigentlich war es mir irgendwann zu spät, aber alles mitnehmen und so. Und meine Sauna-Begleitpersonen waren auch einfach so nett und toll.
(Ich habe schon länger davon geträumt, weil ich wissen wollte, wie sich die Hitze anfühlt, weil ich festgestellt habe, dass ich (temporär als Reiz) „extreme“ Temperaturen mag. In eine öffentliche Sauna werde ich mich wahrscheinlich in naher Zukunft nicht trauen, da es mir dort einfach zu viele fremde, potenziell trans*feindliche Menschen sind.)
Besonders heilsam und spannend für mich war das Erlebnis des Spektrums von Teilnahme, in dem ich mich – in meiner Wahrnehmung – irgendwo in der Mitte befunden habe, zwischen all in und all out. Andere queere Personen an ihrem aktuellen Punkt der Entwicklung zu erleben – ihren Unsicherheiten, ihrem körperlichen Ausdruck, ihren Fragestellungen -, hat mir verdeutlicht, wo ich gerade stehe, was ich bereits geschafft habe, wo ich noch hin möchte, woher ich komme. Es war schön zu erleben, dass alles sein darf – und es keinen äußeren Zwang gibt, irgendwie (schneller, besser, …) zu sein oder zu werden.
Ich denke, solche Erfahrungsräume sind extrem wichtig – für gender-nonkonforme Menschen. Es ist so außergewöhnlich, einmal nicht bewertet, nicht kategorisiert, nicht (an irgendetwas oder irgendeins) gemessen zu werden. Nicht überall mitmachen zu müssen, nicht sprechen zu müssen, wenn 1 gerade nicht will. Diese ernst gemeinte Einladung, unsere Grenzen zu erkennen und zu wahren, nur Verbindungen unter den Bedingungen einzugehen, die wir wollen, und Ressourcen in uns und anderen zu finden, sollte eine Selbstverständlichkeit sein – wie sie in meiner Erfahrung im Alltag quasi nie vorkommt. Ich habe das als großes Geschenk erlebt und nehme viele Impulse daraus mit.
Vielen Dank an lila_bunt, Zaf, Jespa und alle Teilnehmenden!
Falls ihr als queere Person mal an einer Veranstaltung bei lila_bunt teilnehmen wollt und euch die Teilnahme alleine nicht leisten könnt, meldet euch gerne bei mir und ich übernehme bis zu 50€ der Kosten.